Nach meiner Meinung ist der vierbändige Molarroman der projüdischste Roman der Nachkriegszeit.
Man lese die hier wiedergegebenen Kapitel aus dem zweiten Band LILIA.
Doch nun noch einige Vorbemerkungen zum besseren Verständnis. Maria, die spätere Geliebte von Molar, wurde evangelisch getauft, wie ja auch ihre Mutter dem Lutherischen Glauben anhing. Als diese ihren jüdischen Mann mit dem Namen Hirschfelder heiratete, musste er ihr, sollten sie Kindern bekommen, versprechen, seine jüdische Herkunft zu verschweigen. Nachdem fast alle Juden und ihre Familien im Laufe des Jahres 1942 schon abtransportiert worden waren, begann man nun auch jene Juden festzunehmen und in Lager zu verschicken, die mit Nichtjuden in Ehe verbunden lebten. Als in der Nachbarschaft in jenem Vorort Münchens nun auch solche Juden oder Jüdinnen abgeholt worden waren, entschied sich Marias Vater, in die Schweiz zu fliehen. Er offenbarte nun seiner Tochter, dass er Jude sei. Maria bestand darauf, ihren schon kränklichen Vater zu begleiten. Sie fuhren mit dem Zug in einen Ort am Rhein. Mit aufgeblasenen Gummischläuchen schwammen sie nachts über diesen Fluss, wurden aber dort von der Schweizer Grenzpolizei, da sie kein Aufenthaltsvisum vorzeigen konnten, zurückgewiesen. Auf deutscher Seite angekommen, gelang es ihnen nach einigen im Wald verbrachten Nächten bei Pastoren unterzukommen, die sie in Kellern oder Dachböden versteckt hielten. Dort auf Marias Andrängen erzählte er ihr über sein Judentum und das Leid, das sie als Verachtete und Verfolgte in ihrer Geschichte erlebt hatten.
Ich zitiere nun aus dem Buch ab.
(Anmerkung: Das kursiv Gedruckte sind die jeweiligen Gedanken.)
1492, also im Jahr, als Kolumbus die Neue Welt entdeckte, wurden alle Juden, die sich nicht noch schnell taufen ließen, aus Spanien verbannt. Viele der Juden, die diesen Zwangstaufen entrinnen konnten, gelangten ins Osmanische Reich oder konnten in den nördlichen Länder unterkommen oder sogar das ihnen tolerant gegenüberstehende Polen erreichen, wo sie sich mit den aus Deutschland in den letzten zwei-dreihundert Jahren vertriebenen Glaubensbrüdern, die bereits das aus der altdeutschen Sprache stammende Jiddisch sprachen, vereinigten.
Vater: In Luther sollte uns ein neuer Hieronymus erstehen. In seiner Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ gibt er den Rat, alle Synagogen und jüdischen Schulen anzuzünden, die Häuser der Juden zu zerstören und ihnen alle heiligen Schriften zu entreißen. Weiterhin dürften den Rabbinern kein Recht zu lehren gewährt werden, den jüdischen Händlern soll kein Schutz auf der Straße zugesichert sein, und man solle uns auch allen Besitz abnehmen und unseren Handel verbieten. Das heißt, wir waren vogelfrei, denn wir hatten keine Rechte mehr, so dass ein jeder mit uns machen konnte, was er wollte. … Die katholische Kirche suchte jetzt nach einem Sündenbock für die Reformation in Deutschland und in der Schweiz. Man suchte ihn nicht etwa, was viel näher gelegen hätte, bei den eigenen Päpsten, wie Alexander dem Sechsten, oder bei dem Ablasshandel, demzufolge es jedem, der Geld hatte, offenstand, die Vergebung seiner Sünden und Todsünden zu erkaufen, nein, man fand den Schuldigen im wehrlosen Juden mit der Anklage, er habe Luther die hebräische Bibel gegeben, die dieser für sein Reformwerk benötigte. … 1553 wurden in Rom auf päpstlichen Befehl alle jüdischen Bücher verbrannt. Zwei Jahre später verordnete der ehemalige Großinquisitor und nun als Papst residierende Paul IV. – von ihm stammt übrigens die Behauptung, dass Jesus die Juden aus Schuld an seinem Tod zu ewiger Sklaverei verdammt habe – Folgendes: Alle Juden haben ab sofort in allen Städten in ummauerten Ghettos zu leben und ihre Tore müssen, von Soldaten bewacht, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang verschlossen bleiben. – Erst dreihundert Jahre später sollte diese päpstliche Anordnung endgültig rückgängig gemacht werden.
Mit dem Anwachsen des Absolutismus erging es uns Juden je nach Laune seiner willkürlichen Herrscher. Der eine erteilte uns Privilegien für teures Geld, der andere vertrieb uns. … Kaiserin Maria Theresia befahl mitten im Winter, dass alle Juden Böhmens und Mährens das Land zu verlassen hatten. … Friedrich der Große war ein Judenhasser und wurde in diesem Hass von Voltaire bestärkt, der schrieb, dass Juden nichts anderes seien als barbarisch unwissend Volk der schmutzigsten Habsucht und des verabscheuungswürdigsten Aberglaubens. … Zwei Jahre vor der Französischen Revolution befahl der österreichische Kaiser, allen Juden einen angemessenen Namen zu geben. Die Reicheren unter uns ‘durften‘ sich mittels der bestechlichen Beamten einen wohlklingenden Namen wie Silbermann, Satinstein oder Blumenberg erkaufen, während jenen von uns, die nichts für ihre Namensgebung ausgeben konnten, irgendein Name nach Lust und Laune der Beamten zudiktiert wurde, also Namen wie Grünspan und Schimmelpfennig, über die man sich auch in Zukunft lustig machen konnte.
Maria: Warum heißt ‘unser‘ Volk das ‘auserwählte Volk‘?
Vater: Wie freue ich mich, dass sie wieder von ‘unserem‘ Volk spricht. Ja, sie gehört zu uns. Sie ist eine wirkliche Sarah (Fürstin). Meine liebe Tochter! Gott hat uns erwählt, um uns zu prüfen, ob wir auch stark genug im Glauben sind, nur Ihm und seinen durch Moses uns überlieferten Gesetzen zu folgen und nicht – um unser Gut und Leben zu retten – den Glauben anderer anzunehmen. Wir sind auserwählt, Gott auch in den größten Drangsalen die Treue zu wahren. Die Geschichte des Christentums hat einige hundert Märtyrer zu verzeichnen, die um des Glaubens willen starben. Aber unsere Märtyrer müssen in Millionen gezählt werden. Ich bin stolz darauf, Jude zu sein, denn ich kenne kein anderes Volk dieser Erde, das sich so heldenhaft im Erdulden und Erleiden gezeigt hat. …“
Hier nun die Fortsetzung von jenen Kapiteln aus LILIA über die Schicksale der Juden. Dieses 18. Kapitel heißt:
WAS HABEN WIR DIR BÖSES GETAN?
Vater: Ich hatte dir die drei großen Ereignisse angekündigt. Die das Ende ‘unseres‘ Mittelalters einleiteten. Moses Mendelssohn war das erste. Jener wuchs in ärmlichsten Verhältnissen auf. Jiddisch war seine Muttersprache. … Aber der junge Moses lernte eifrig die deutsche Sprache durch Selbststudium. Er wurde ein sehr gebildeter Mann, der selbst, als er schon berühmt war, noch den Leibzoll für Juden, der sonst nur für Tiere erhoben wurde und dessen Betrag bewusst dem des ‚Schweinezolls‘ entsprach, an dem einzig uns zu passieren erlaubten Toreingang im Norden Berlins zu entrichten hatte. Der Dichter Gotthold Ephraim Lessing lernte Mendelssohn kennen und schätzen. Er schrieb ein Drama „Die Juden“, das einen selbstlos handelnden Sohn Israels mit edelster Gesinnung darstellte. Dieses löste eine allgemeine Entrüstung in der Gelehrtenwelt aus, war es doch eine ‘abgemachte Sache‘, dass der Jude nur ein ‘Tier‘ war und zu keiner edlen Tat der Gesinnung fähig sein konnte. Mendelssohn sagte einmal, dass das Volk der Christen uns von jeher als den Auswurf der Natur, als Geschwüre der menschlichen Gesellschaft angesehen habe. Als man in Lessing drang, ihnen wenigstens nur ‘einen‘ Juden von edler Gesinnung zu zeigen, wies er auf Moses Mendelssohn, der 1755 mit seinen “Philosophischen Gesprächen“ das erste Buch eines Juden in deutscher Sprache verfasst hatte. Als jener zwölf Jahre später seinen „Phaedon“ schrieb – es ist eine Abhandlung über die Unsterblichkeit der Seele -, wurde dieses zu einem Bestseller, der auch in anderen Sprachen Übersetzungen fand. Der kleine Jude aus Berlin war plötzlich eine Berühmtheit geworden und wurde von vielen als der ’deutsche Plato‘ bezeichnet. … So wurde Mendelssohn zum Vater des sich bald jüdisch-deutschen Schriftstellertums, dessen Produktivität sich mit einer nie geahnten Vehemenz kundtun sollte. In Goethes Geburtsstadt wurde zu dieser Zeit in der Judengasse, dem Ghetto Frankfurts, der erste nach Mendelssohn zur Berühmtheit gelangte jüdische Schriftsteller geboren. Er hieß Ludwig Börne. Dort waren Tausende von Juden in Elendsquartieren auf Engste zusammengepfercht. Die meisten trauten sich der vielen Schikanen ihrer christlichen Mitbürger wegen nicht, ihre Gasse zu verlassen. … Trat ein Jude aus seinem Ghetto heraus, konnte es passieren, dass ein Christ ihm zurief: „Mach Mores, Jud!“ Und sofort hatte dieser seinen Hut ehrerbietigst zu ziehen, wollte er nicht mit Tritten und Schlägen bedacht werden. Wir Juden mussten immer um die Gunst betteln und uns demütig und bescheiden geben, um ja nicht einen Christen zu veranlassen, an uns sein Mütchen zu kühlen. Wir wurden ängstlich, verzagt, duckten unseren Körper, rieben uns oft die Hände, was als eine psychologische Reaktion des Schutzsuchens und der Unsicherheit anzusehen ist, womit wir natürlich nur wieder Spott und Hohn ernteten. Unsere Ärmlichkeit, die in den abgemagerten Gesichtern oder in den lumpenhaften Kleidungsstücken zum Ausdruck kam, tat ihr Übriges. Der Bürger, der uns so begegnete, sah sich allen Vorurteilen bestätigt, die ihm von Kindesbeinen an eingeimpft worden waren. Spottbilder an Kirchen und Stadttoren leisteten diesem antijüdischen Komplex Vorschub. Die ’Judensau‘, an deren Zitzen sich die Juden ihre Nahrung saugten, war ein beliebtes Bild, das vielerorts jedermann zur Stabilisierung seiner Vorurteile sichtbar war. Auch Goethe wuchs mit diesen Vorurteilen auf. Aber es gelang ihm, diese mit der Zeit abzubauen, so dass er später einmal von Rachel Levin, verheiratete Varnhagen, sagen konnte, sie sei das, was er eine ’schöne Seele‘ nennen möchte.
Maria: Jetzt kommen mir vor Rührung die Tränen. Um wievielmal mehr liebe ich dich jetzt, mein geliebter Goethe. Du warst wirklich ein großer Mensch. Ja, ich möchte auch danach streben, immer eine ‘schöne Seele‘ zu sein. Vielleicht begegne ich einst auch einmal einem Dichter, den damit zu erfreuen mir erlaubt sein darf.
Vater: Das zweite große und für uns wichtige Ereignis war die Unabhängigkeitserklärung der neu gegründeten Vereinigten Staaten von Amerika im Jahre 1776. Hierin wurden zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte allen Menschen gleiche Rechte eingeräumt, und diese schlossen auch uns Juden mit ein. Seitdem ist Amerika für viele Verfolgte und Ausgewanderte unseres Stammes zum zweiten ‘Gelobten Land‘ geworden. In den Vereinigten Staaten konnten wir uns frei entfalten und Großes vollbringen zum Nutzen aller Bürger, was manchen Präsidenten dazu veranlasst hat, uns in höchsten Tönen zu loben.
Das dritte große Ereignis für uns war die Französische Revolution von 1789, deren Verfassung die Unabhängigkeitserklärung des Thomas Jefferson in vielem kopierte und allen Bürgern die Gleichberechtigung zusprach. Jetzt wurden die Juden überall dort aus ihren Einengungen befreit, wo immer die Revolutionsheere hingelangten. Selbst Napoleon setzte sich der Befreiung der Juden nicht entgegen, so dass wir in seinem ganzen Kaiserreich, welches sich bald von Italien bis an die Elbe erstreckte, aus unseren Ghettos und Judengassen hervorkommen konnten und uns je nach Wunsch überall, sogar in das bis dahin für Juden verbotene Bremen und Lübeck niederlassen durften. Die Mauern des Ghettos in Rom und anderswo wurden geschleift. Endlich, endlich war es soweit! So dachten wir damals. Sogar Preußen erließ ein Verdickt zur Gleichberechtigung der Juden. Wir konnten Lehr- und Schulämter, aber auch Gemeindeämter bekleiden. Wir durften wieder unseren Bart scheren, durften jetzt durch alle Tore Berlins anstatt des einen wie bisher uns zugewiesenem ungehindert ein und aus gehen. Und als der König zu den Waffen rief, meldeten wir uns wie die eifrigsten Patrioten zum Militärdienst und haben uns in den Befreiungskriegen rühmlich hervorgetan, so dass dreiundzwanzig der Unsrigen zu Offizieren befördert wurden und weitere zweiundsiebzig das Eiserne Kreuz empfingen.
Aber sobald Napoleon besiegt war, kehrte mit der Restauration in Preußen, Österreich, Italien und anderswo alles zum Alten zurück. In Italien wurden die Ghettomauern wieder hochgezogen, in Wien erteilte man seinen zehntausend jüdischen Bürgern nur eine zweiwöchentliche Aufenthaltserlaubnis, so dass diese sich genötigt sahen, auszuwandern, sich zu verstecken oder sich eben alle zwei Wochen eine neue teurer zu bezahlende Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung zu erstehen. …. Viele der Unsrigen haben sich aus Verzweiflung, um nicht ihre jetzt einmal genossenen Rechte wieder zu verlieren, taufen lassen. Zu ihnen gehörte die Familie Mendelssohn, Ludwig Börne, die Eltern von Karl Marx und jene Heinrich Heines. … Das Frankfurter Parlament von 1848 forderte die Gleichheit für alle, auch für die Juden. In den nächsten Jahrzehnten wurde sie endlich in den meisten Ländern Europas Wirklichkeit. … Nur in Russland waltete für uns weiterhin das finstere Mittelalter. Aber ich will dir darüber lieber nichts erzählen, denn ich habe dir schon viel Grauenhaftes berichten müssen.
Maria: Erzähle nur, lieber Vater, denn ich will alles über ’mein‘ Volk‘ wissen.
Herr Hirschfelder kann seine Tränen nicht verbergen. Er umarmt sein einziges Kind und schluchzt an der Tochter Schulter: „Meine liebe Maria“, so sagt er nach einer Weile, „heute ist mein glücklichster Tag. Du hast zu ‘deinem Volk‘ zurückgefunden.“
Maria: Ja, lieber Vater. Ich weiß, dass ich jetzt mit Herz und Seele Jüdin bin. Ich gehöre zu ’unserem Volk‘, ich will mich auch dazu bekennen. Ich bitte dich, mir nichts zu verschweigen.
Vater: Als der uns gewogene Zar Alexander der Zweite ermordet wurde, beschuldigte man die Juden als Sündenböcke, woraufhin dermaßen schauerliche Pogrome wie selten in unserer Geschichte zuvor stattfanden. Es müssen damals Hundertausende der Unsrigen in Russland ermordet worden sein. Überall in Russland vom Kaukasus bis in den Norden und sogar bis Warschau erklang der Ruf: „Tod den Juden!“ In Panik flohen viele Hunderttausende nach dem Westen und überschwemmten mit ihren armseligen Bündeln in der Hand die Hafenstädte, um auf eine Überfahrtsgelegenheit nach den Vereinigten Staaten oder auch nach Australien, Neuseeland, Südafrika, Südamerika und Kanada zu warten. … Wohl drei Millionen jüdischen Osteuropäern dürfte die Flucht in die ’freie Welt‘ geglückt sein.
GELOBET SEI DER HERR!
Drei Tage nach Marias Ankündigung ihres Übertrittentschlusses ist es endlich so weit. Noch vor Morgendämmerung verlassen Vater und Tochter das Pastorenhaus und gehen in die Richtung, die zu jenem fünf Kilometer entfernten Nachbardorf führt. An der diesem Dorf vorgelagerten Brücke wollen die beiden sich, wie verabredet, mit dem Rabbiner und dessen Frau treffen. Pastor Heger, der wie sein Kollege aus jenem Nachbardorf es sich nicht nehmen lassen wollte, diesem ’Geburtsakt‘ beiwohnen zu dürfen, wird, da ihm der weite Weg zu Fuß seiner Prothese wegen zu beschwerlich ist, mit dem Fahrrad nachkommen.
Vater und Tochter schreiten der Brücke schweigend entgegen. Er hat sein einziges Kind bei der Hand: Heute ist der größte Tag meines Lebens. Ich bin so aufgeregt. Meine Frau darf natürlich von allem nichts erfahren. Sie würde mir ewig grollen, dass ich den schriftlichen Ehevertrag gebrochen und ihre Tochter zu meinem Glauben geführt hätte. Es ist gut, das wir alle heute zu so früher Stunde aufzubrechen beabsichtigten. So werden wir und die Krakauers doch wenigstens nicht von einem unserer Dorfpolizisten nach unserem Wohin und Anderen gefragt. In meinem Dorf kennt mich natürlich der Polizist unter dem Namen Altmann. Für ihn, wie der der Pastor ihm aussagte, bin ich dessen Kriegskamerad, aus dem Ersten Weltkrieg, der seines leidenden Herzens wegen bei ihm aufgenommen worden ist. Aber die Krakauers sind von ihrem Polizisten noch nicht entdeckt worden. Jener soll ein gemeiner Schnüffler sein, vor dem auch wir uns verstecken müssen. … Mit Pastor Heger hören wir heimlich den Feindsender. In England wimmelt es nur so von amerikanischen Soldaten. Wahrscheinlich bereiten sie sich auf eine Landung an der Festlandsküste vor. … Aber heute, wenn Maria zu unserem Glauben übergetreten sein wird, will ich dem Herren für dieses Wunder danken und Ihm sagen, dass ich nun keine Furcht mehr vor dem Entdecktwerden haben will. …
Und als die Beiden die Konturen der Brücke in der schwangeren Finsternis erkennen, bekommen sie einen Schreck, denn aus der nebeldämmerdunklen Brückenwand löst sich eine Gestalt und kommt auf sie zu. Doch jener furchteinflößender Schatten raunt sogleich durch die matte Düsternis: „Sind Sie es? Ich bin Pastor Jacobi!“
Hirschfelder: Ja, wir sind es!
Und der Pastor naht sich ihnen, reicht beiden die Hand und sagt: „Herr und Frau Krakauer sind schon dort weiter unten am Fluss und bereiten alles vor. Frau Krakauer wird uns bald von hier abholen. Ja, dort sehe ich auch ein Fahrrad nahen. Das wird unser braver Heger sein.“
Und so ist es. Der ankommende Pastor steigt vom Fahrrad und begrüßt seinen Kollegen, während er Maria und Vater Hirschfelder noch im eigenen Haus begegnet war. Er nimmt ein eingewickeltes Bündel von seinem Gepäckträger herunter, in welchem, wie vermutet, sich einige freudige Überraschungen befinden. Es ist jetzt etwas heller geworden.
Nun sehen sie, wie Frau Krakauer aus dem Schilf des Flussufers hervorkommt. Somit gehen ihr die vier Wartenden auf einem Pfad entgegen. Einem jeden drückt sie die Hand zum Gruß. Pastor Jacobi trägt den Korb, während Pastor Heger der Rabbinerfrau das Paket überreicht, das sie mit nickender Gebärde, die Maria darüber kündigt, dass jene den Inhalt schon kennt, entgegennimmt, woraufhin die vier ihr durch das Schilf auf eine dahinter befindliche Lichtung folgen, die von dem Schilf zur Rechten, Haselnusssträuchern zur Linken und weiterem Schilf nebst Weiden und Pappelbäumen zum Flussufer hin umgeben ist, während sich die Hinterseite dem Blick zum nahegelegenen Wald über eine ansteigende Wiese hin öffnet. Die Natur ist mit dem Schleier des Taus überdeckt und blinkt die im Morgennebel dort geheimnisvoll versammelten Menschenkinder an, die jetzt den Rabbiner begrüßen, der freudigfeuchten Auges Maria umarmt.
Herr und Frau Kraukauer haben inmitten dieser wiesennassen Lichtung mit abgebrochenem Grün der Weiden einen etwa zwei Meter großen Kreis umlegt, der zum Fluss hin einen von zwei grünenden Ästen geschmückten Eingang geöffnet hält. In der vorderen Kreismitte liegt ein kleiner Teppich ausgebreitet, vor dem – also etwa genau in der Halbkreisdiagonalen – sieben Kerzen im feuchten Boden stecken. Maria ist in die vorzunehmende Zeremonie eingeweiht worden. Gebärdensprache und Blicke regeln vorerst alle weiteren Ereignisse. Maria reicht den beiden Pastoren zum ’Abschied‘ noch einmal die Hand und folgt dann der Rabbinerfrau durch das hohe Schilf dem Fluss zu.
Dort den Blicken der vier zurückgebliebenen Männer entzogen, kleidet sie sich ganz aus und legt ihre Kleiderauf die morgennassen Schilfstängel, die sich unter der Last nach unten biegen. Dann steigt sie, vorsichtig mit den Füßen nach einem festen Halt tastend, in die Strömung des Wassers hinein. Nun steht sie allen sichtbar bis zum Bauchnabel im Fluss. Jetzt zieht sie die Knie ein und verschwindet, wie vorgeschrieben, mit Haut und Haaren unter die Wasseroberfläche, so dass die Wasserflut auch jeden Teil ihres Körpers umspült und sie von ihrer christlichen Vergangenheit ’reinigen‘ kann. Dreimal taucht sie unter. Jetzt steht sie wieder in der gurgelnd fließenden Strömung und bahnt sich ihren Unterleib durch die Wassermengen. Ihre schwarzen Haare hängen über Schultern und Brustkorb zu den Ellenbogen herab, die sie über die Brüste verschränkt hält. Frau Krakauer steht mit einem Handtuch am Ufer und ist der ’Neugeborenen‘ beim Abtrocknen behilflich. Dann entnimmt sie dem von Pastor Heger ihr übergebenen und nun ausgebreitet daliegenden Paket frische Unterwäsche und einen Büstenhalter und stülpt der Nasshaarigen, deren Augen jetzt wie Flammen leuchten, ein wunderbar gewirktes langes blaues Kleid über, auf welches Blumen in mannigfachen Farben gestickt sind. Alle diese Sachen hatte Pastor Heger den Kleiderschränken seiner beiden Töchter mit der letztlich erwirkten Zustimmung seiner Frau entnommen. Maria besieht sich in ihrem festlichen Kleid. Sie nimmt nun den ihr dargereichten Kamm und streicht noch eingenistetes Nass aus den Strähnen ihrer Haarfülle. Alsdann kniet sie auf Zeichen der Rabbinerfrau vor dieser nieder, und jene zieht ihr einen Scheitel über die Mitte ihres Hauptes, so dass die Haare gleichmäßig über beide Schulten herabfallen. Frau Krakauer legt daraufhin die Kleidungsstücke über den Arm und behält auch der Barfüßigen Schuhe in der Hand, da jene diese zurückwies mit dem Gedanken, dass Gott seine Menschenkinder immer unbeschuht zur Welt kommen lasse. Dann biegen die beiden mit den Händen und Ellbogen die Schilfhalme auseinander und bahnen sich den Weg zurück zur Lichtung.
Rabbi Krakauer zündet, als er das Knacken im Geschilf vernimmt, die sieben Kerzen an und zerrt aus seiner Jackentasche eine am Vorabend von seiner Frau gefertigte Kippa (Hütchen) hervor, und stülpt sie über sein Haar. Nun schreitet er der von seiner Frau ihm Zugeführten entgegen, nimmt ihre Hand und geleitet die ’Neugeborene‘ durch das den Eingang markierende Grün in den leuchtenden Kreis, wo Maria vor den Kerzen auf dem weichen kleinen Teppich niederkniet. Der Rabbi geht um sie herum und stellt sich, ihr zugewandt, vor ihr auf. Er schließt nun wieder seine feucht gewordenen Augen und singt halblaut, um nicht zufällig Uneingeweihte herbeizulocken, einen Psalm des Königs David. Zur Rechten des Kreises stehen die beiden Pastoren, zur Linken Herr Hirschfelder und Frau Krakauer. Ihnen allen ist sehr feierlich zu Mute. Sie haben nasse Augen. Bei Herrn Hirschfelder gar rollen die Tränen über die Wangen herunter. Sie alle haben ihre Hände übereinandergelegt. Und Pastor Heger spricht ein stilles Gebet: Herr, ich weiß, dass du jetzt zu dieser Stunde zugegen bist. Lasse Deinen Segen über Maria ruhen. Behüte und beschütze sie in Ewigkeit. Lasse Dein Angesicht leuchten über ihr und gib ihr Deinen Frieden. Amen.
Herr Hirschfelder: Großer Gott und Herr! Ich danke Dir von ganzem Herzen, dass Du mich noch in diesem Leben mit einer neuerstandenen Tochter erfreust. Möge sie Dir in allem geweiht bleiben und mit ganzem Herzen Dir und Deiner urewigen Liebe dienen. Amen.
Jetzt legt der Rabbi seine beiden Hände auf das Haupt der vor ihm Niederknienden und spricht: „Herr! Nimm Dein neugeboren Kind in Deine Arme. Deine Tochter hat zurückgefunden zu Dir als dem Einzig-Wahren. Sie hat zurückgefunden zu dem durch Dich Abraham und Moses verkündigten Glauben. Meine liebe Tochter! Finde in dem Glauben unserer Väter deine neue Wohnung. Von nun ab sollst du Mirjam heißen, denn du bist nun eine Sarah, eine Fürstin geworden. Jewarechecha Haschem wejischm’recha
Ja’er Haschem panaw elecha w’jechunecha
Jissa Haschem panaw elecha w’jassim lecha schalom.“
Und Rabbi Krakauer beugt sich jetzt über die Kerzen hinweg zu ihrem Haupte nieder und drückt ihr einen Kuss auf die Stirne. Dann sagte er: „Mirjam, stehe auf und schreite als Neugeborene hinaus in dein neues Leben.“
Er fasst die schwarzhaarige ’Fürstin‘ bei der Hand und führt sie aus dem grünen Kreis hinaus und geleitet sie ihrem Vater zu, der sie an seine Brust drückt und nun auch seine Schluchzer nicht zurückhalten kann: „Meine liebe Tochter! Dass ich diesen Tag noch erleben durfte, macht mich zum glücklichsten aller Menschen.“
Und die neue Sarah löst sich vom Vater, woraufhin sie von Frau Krakauer umarmt und geküsst wird. Dann schreitet sie stolz erhobenen Hauptes wie eine wahre Fürstin um den Kreis herum auf jene zwei wackeren Kirchenmänner zu und bückt sich zu ihnen nieder und küsst ihre Schuhe. Und als sie sich wieder aufrichtet, nimmt Pastor Heger sie in seine Arme, bringt aber kein Wort über ihre Lippen, denn er weint wie ein Kind vor der fassungslosen und das Innere erbebenden Freude im Innesein der Gegenwart des Göttlichen.
Und nachdem Rabbi Krakauer sie wieder umarmt hatte, nimmt der Vater die noch immer Barfüßige bei der Hand. Sie wenden ihre Schritte über die sich nach oben streckende Wiese dem Wald zu, in welchem man, verborgen von unliebsamen Überraschungen, ein Festimbiss zu sich zu nehmen gedenkt, der vorsorglich von Pastor Heger in jenem Korb mitgeführt worden war. Frau Krakauer entfernt das vielleicht zum Verräter werden könnende Gezweig, sammelt die von ihr nun aufgepustet werdenden Kerzen ein, welche sie ihrem Pastor übergibt, rollt den Teppich zusammen, den nun ihr Mann, der seine Kippa wieder abgesetzt hatte, unter den Arm nimmt und den beiden Vorausgegangenen folgt. Die Sonne ist soeben hervorgekommen und schickt nun ihre Strahlen über die in Licht widerfunkelnden abertausend Perlen, die an den Gras- und Blumenhalmen, den Blättern, Blüten und Zweigen morgendlich feucht glitzern.
Rabbi: Da gehen die Beiden dahin wie einst unser Abraham seinen Sohn Isaak nach Hause geführt haben mag. Dem Vater wurde zum zweiten Mal sein Kind geboren. Gelobet sei der Herr!