Worauf man als Jungfrau zu achten hat

Am Freitag zur verabredeten Stunde treffen sich unsere beiden Schutzbefohlenen am Pasinger Bahnhof und gehen die zum Bodensee führende Strasse so weit entlang, bis sie an den Eiszeitfluss Würm gelangen, auf dessen linker Seite sie stromaufwärts durch einen kleinen Stadtpark spazieren, wobei unser geldscheffelnder Dichter seine Zauberin über den Kindergarten, über ihre musikalische Ausbildung und über ihre Lieblingsbücher ausfragt, ihr selbst aber von seinem bald zu veröffentlichenden Gedichtband berichtet. Ja, er versucht alles, sie von der eventuellen Idee abzulenken, ihn nach Familienverbindungen allernächster Art zu fragen. Er weiss, dass er ihr bald einen Offenbarungseid abzulegen haben wird. Aber muss es denn ausgerechnet schon heute sein? Jetzt, wo es doch gilt, mir erst ihre Zuneigung zurückzugewinnen? Würde sie nicht desillusioniert sein, wenn ich ihr erzählte, dass ich verheiratet bin? Nein, heute noch nicht. Beim nächstenmal vielleicht, oder wann immer sie selbst danach fragen wird.

 

Maria: dassdrüben zwischen den Bäumen steht meine frühere Oberschule. Ja, dort haben Mitschüler mich einst angespuckt. Sie haben mich schikaniert, so dass ich schliesslich die Schule verliess. Ich war ihnen ein Dorn im Auge. Eigentlich wollte ich einmal Ärztin werden. Aber das Schicksal hat es anders gefügt.

 

Molar: Ach, was du nicht sagst! Du wolltest dich ebenfalls in den Dienst der kranken Menschen stellen? Auch ich habe diesen Dienst als Apotheker ausgeübt. Aber jetzt habe ich mich dazu entschlossen, den seelisch kranken Menschen zu helfen, dass es davon doch eine ganze Reihe mehr gibt als von den körperlich Kranken. Ich will mit meinen Gedichten den Menschen helfen, das Gute in sich wiederzufinden, denn ich glaube, dass in jedem Menschen ein guter Kern ruht, den es zu aktivieren gilt. Ich konzentriere mich auf diesen guten Kern in eines jeden Innersten und versuche, ihn auf diesen hinzulenken, auf dass er Vertrauen zu sich fasse und wieder Hoffnung und Glauben an dieses innewohnende Gute hege. Meine Gedichte zielen auf eine Rückfindung zum eigentlichen, ja, ich will sagen, zum Höheren Ich. Vielleicht können wir uns auf eine Bank setzen, damit ich dir einige Gedichte zeigen kann. Dann wirst du verstehen, was ich meine.

 

Und bald trägt er seinem in einen blauen Mantel gehüllten Wundermädchen aus seiner “Festlichen Gabe” das Gedicht “Zuspruch” vor. Und durch ihre bewunderungsexklamierenden Worte des Staunens und des Beifalls wird unser nun in ihrer Gegenwart “endlich” auftauender Poet ermuntert, noch mehrere Gedichte vorzutragen, die sie, wie wir deutlich zu unserer Freude vermerken, im Inneren bewegen: Ja, er ist ein echter Dichter. Seine Worte sind mit Gold gewogen. Sie sind eindringlich und echt empfunden. Geballte Sprachwunder. Sie verfehlen ihre Wirkung nicht, sie ergreifen. Es sind wirkliche Anrufe an die Seele. Sie sind gewaltig. Dagegen sind meine eigenen dichterischen Versuche - sind es eigentlich solche? - recht bescheiden. Sie sind auch im Vergleich zu Hans Winfrieds Gedichten persönlicher, das eigene Ich in seiner Unergründlichkeit auslotend. Seine Gedichte aber stammen aus der All-Seele und schöpfen aus jener wie aus einem Wahrheitsbrunnen. Ja, jedes seiner Gedichte ist jeweils ein Stärketrunk aus dieser Quelle. Ich schreibe nur selten ein Gedicht, und das auch nur, wenn es “über” mich kommt. Meistens geschieht es nachts, wenn ich auf einmal erwache und dann eine innere Stimme zu vernehmen meine, die mich freundlichst auffordert, einen Stift und ein Blatt Papier zur Hand zu nehmen, um das zu Diktierende niederzuschreiben. Es sind sehr schöne Gedichte dabei. Soll ich ihm erzählen, dass ich auch Gedichte schreibe? Ich fühle mich ja so unbedeutend neben einem wirklichen Dichter. Aber heute habe ich doch wieder grösseres Zutrauen zu ihm. Trotzdem, küssen lassen würde ich mich heute auch noch nicht. Auf dem Faschingsfest war es ja etwas ganz anderes. dass durfte man sich in eine von allem Alltag losgelöste Welt versetzt fühlen und sein eigentliches Ich gegen ein anderes austauschen. Ich ging als Zauberin. Aber er hat in mir alles andere gesehen. Zuerst war ich Aphrodite, dann Kleopatra, dann eine Japanerin und schliesslich Helena. Ja, mein lieber Molar! Er ist doch ein sehr charmanter und gutaussehender Mann und darüber hinaus ein Dichter. Ich könnte mir denken, dass sich so manches Weibsbild in ihn vergaffen könnte. Eigenartig, dass er noch nicht verheiratet ist. Ich sehe keinen Ehering an seinem Finger.

 

Molar: Sie ist so schön. Ich wage gar nicht, sie anzusehen aus Angst, ich könnte den Verstand dabei verlieren. Meine Gedichte beeindrucken sie. Ich bin froh, dass sie soviel Interesse an der Dichtkunst hat. Meine liebe Gerdasswar ja auch unvergleichlich schön, aber mit meinen Gedichten konnte sie nichts anfangen. Sie war vielmehr ein Naturkind, das am Praktischen seine Freude hatte und gerne zu Pferde ritt. Maria ist für mich die erste junge Frau, welche ich kennenlerne, die sowohl die äussere wie die innere Schönheit in Vollendung besitzt. Vielleicht schreibt sie sogar Gedichte? Hast du auch einmal Gedichte geschrieben?

 

Maria: Ja, gelegentlich.

 

Molar: Das ist ja grossartig! Jetzt spricht also ein Dichter zu einer Dichterin.

 

Maria: Nein, nein. Ich bin keine Dichterin. Meine Gedichte kommen von alleine. Ich brauche nicht zu sinnen, Reime zu schmieden und zu feilen. Es ist für mich ganz kinderleicht. Und die Sprache ist ebenfalls ganz einfach.

 

Molar: Trotzdem. Du musst mir bei unserem nächsten Treffen deine Gedichte mitbringen.

 

Maria: Ich habe sie noch niemandem gezeigt. Doch bin ich gespannt, was er dazu sagen wird. Denn er, als ein wirklicher Dichter, wird doch bestimmt wissen, ob meine geheimen Verse auch objektiv ebenso grossartig sind, wie sie mir subjektiv erscheinen wollen.

 

Beide sind, vom Geiste der Dichtung begleitet, durch ein altes, den Friedhof umfriedendes Gemäuer in den die kleine Kirche umgebenden Ruhe-sanft-Garten eingetreten und betrachten einige der Gräber samt deren Aufschriften, entdecken auch die ersten Schneeglöckchen, die hier und dort sich schon hervorgewagt haben.

 

Maria: Was machst du eigentlich beruflich? Denn von Gedichten wird man ja nicht leben können?

 

Molar: Doch! Ich bringe wohl als erster deutschsprachiger Dichter das Kunststück fertig, von besinnlicher Lyrik auch gut profitieren zu können. Aber dazu ist es auch notwendig, sich nicht nur am Schreibtisch sitzend “strebend” zu bemühen, sondern auch das in durchwachten Nächten mit grosser Zähigkeit dichtend Abgerungene selbst an die Leserschaft heranzutragen. Ich habe den Weg gefunden, wie man die tiefen Gräben, die zwischen dem “Künstler” und dem “Bürgertum” klaffen, überbrücken kann.

 

Maria: Und wie stellst du diese Überbrückung her?

 

Molar: Ich stelle mich meinen Mitmenschen in Zügen, Restaurants und Cafés vor und überreiche ihnen eine “Festliche Gabe”, eben jene vier gedruckten Gedichte, die ich vorhin für dich mit einer Widmung versehen habe.

 

Maria: Um Gottes willen! Er hausiert mit Gedichten. Ich weiss, was es heisst, andere Leute um etwas bitten zu müssen. Das hat mich jedesmal tief beschämt. Aber ihm scheint das alles nichts auszumachen. Fällt dir das denn gar nicht schwer?

 

Molar: Doch, manchmal schon. Aber ich stelle mir oft vor, dass ich der Angeredete selber bin, der dasssitzt und überrascht ist, einen Dichter ihn ansprechen zu sehen, um ihn mit einem Gedicht des Zuspruchs aufzumuntern. Ja, wenn wir uns nur jeweils in den anderen mit unserem Ich hineinversetzen könnten, ginge vieles einfacher. Wir müssen die Befremdung, die Angst vor dem anderen Du überwinden und uns alle als ein Wir von Brüdern und Schwestern begreifen. Wir müssen uns gegenseitig helfen. Wir müssen alle zur Liebe füreinander finden. Ich bin ein Brückenschlager zwischen den in der Einsamkeit dahertreibenden Inseln im Menschenmeer. Als solcher habe ich unermüdlich zu sein.

 

Maria: Aber geben dir denn die Mitmenschen überhaupt etwas für deine Brückenbauereien?

 

Molar: Ja, ich darf stolz auf meine Erfolge sein, die sich immer dann in besonderem Masse einzustellen pflegen, wenn sich das Glücksrad in Schwung gesetzt hat. Dann kann ich ununterbrochen vierzehn Stunden lang auf den Beinen sein. Mein (unser!) bisheriger Tagesrekord belief sich auf sechshundertdreissig Mark.

 

Maria: Was? Das ist doch unmöglich! Das verdiene ich noch nicht einmal in vier Monaten. Er ist schon ein toller Mann. Er hat Mut. Er versucht mit allen Mitteln, das Dasein eines Lebensdichters zu verwirklichen. Es ist wohl kaum ein anderer Dichter je bereit gewesen, unter diesen schweisstreibenden Bedingungen für seine Dichtung einzustehen. Die hätten doch alle schon längst ihre Poeterei an den Nagel gehängt, oder sie hätten sich in einem Spitzweg-Kämmerlein zu Tode gehungert. Ja, Hans Winfried verwandelt sein Leben geradezu in eine Dichtung, in der er als Dichter die Hauptrolle zu spielen scheint.

 

Molar: Ich werde heute noch meine Bastschuhe im Hotel Grünwald einlösen. Dem Kellner Wallner werde ich ein schönes Trinkgeld für seine frühere Hilfe geben. Und Maria werde ich beim nächsten Mal ein Paar “Bodenseegrüsse” mitbringen. Welche Schuhgrösse hast du eigentlich?

 

Maria: Zweiundvierzig. Wieso fragt er nach meiner Schuhgrösse? Will er mir Schuhe kaufen? Wieso fragst du?

 

Molar: Nur so, aus blosser Neugier.

 

Maria: Darf ich dir auch aus blosser Neugier eine Frage stellen?

 

Molar: Ja. Hoffentlich fragt sie nicht, ob ich verheiratet bin.

 

Maria: Wie alt bist du?

 

Molar: Ich werde im nächsten Monat zweiundvierzig.

 

Maria: Hab’ ich doch fast richtig vermutet. Ist es nicht eigenartig, dass wir gerade zweimal die Zahl zweiundvierzig erwähnt haben? Ob das wohl Zufall war?


Und als sie sich eine Stunde später, den Eiszeitfluss links liegen lassend, dem Bahnhof Lochham nähern, von wo aus sie in getrennte Richtungen zu fahren gedenken, kann sie, die Sternäugige, nicht mehr ihre Neugierde bezwingen.

 

Maria: Warst du noch nie verheiratet?

 

Und unser Brückenbauer ist - uns sichtbar - erschrocken ob dieser “Maria-Frage”. Nun, irgendwann musste sie ja fragen. Meine erste Frau starb kurz nach der Geburt unseres vierten Kindes.

 

Maria: Ach, wie schlimm. Das tut mir aber sehr leid. Du und die Kinder werden sehr gelitten haben müssen. Und wo befinden sich deine vier Kinder jetzt?

 

Molar: Ich habe.... ich entschied mich ... den Kindern zuliebe .... ja, sie brauchten ein neues Zuhause und eine neue Mami .... und deshalb bin ich wieder verheiratet.

 

Maria: Um Gottes willen! Dacht’ ich es mir doch. Er ist gebunden. Und ich törichte Gans machte mir auch noch Hoffnungen auf ein näheres Verhältnis mit einem Dichter. Und er ist verheiratet, lässt seine Frau mit seinen Kindern am Bodensee zurück und vergnügt sich in München und pussiert herum. Und ich lass mir beinahe auch noch den Kopf verdrehen. Und warum trägst du denn keinen Ehering, damit man sieht, worauf man als junge Frau zu achten hat?

 

Molar: Ja, das ist so. Ich hatte ihn zum Fasching abgelegt und wollte ihn mir erst dann wieder anstecken, wenn ich dir alles schonend beigebracht hätte, denn sonst hättest du mir vielleicht sofort den Rücken zugekehrt.

 

Maria betupft mit dem Taschentuch die feucht werdenden Augen: Es ist schade, so hintergangen zu werden. Es begann alles so schön für uns zu werden, und jetzt ist alles aus.

 

Molar: Liebste, verzeih mir. Aber sage mir bitte, wie du an meiner Stelle gehandelt hättest, wenn du jemanden, den du liebst, nicht verlieren willst?

 

Maria: Ich weiss es nicht. Ich sollte dich jetzt stehenlassen und nach Hause fahren.

 

Molar: Bitte, bitte, tu mir das nicht an. Kann ich dafür, dass wir uns erst jetzt und nicht schon vor zwei oder drei Jahren begegnen konnten?

 

Maria: Trotzdem! Ich werde jetzt nach Hause fahren. Ich muss erst mit mir ins reine kommen.

 

Molar: Können wir uns morgen wiedersehen?

 

Maria: Ich fahre mit meiner Mutter über das Wochenende nach Garmisch. Wir könnten uns frühestens am Montag treffen. Sagen wir hier am gleichen Ort um halb drei? dasskommt ein Taxi. Ich werde mich nach Hause fahren lassen. Auf Wiedersehen!

 

Molar: Liebe Maria, bitte, verzeih mir! Hab ein schönes Wochenende! Und bring am Montag deine Gedichte mit!