Molar geht an seinem Stock durch einen heute von Windböen durchwehten Münchner Vorort. Seine Kriegsverwundung am linken Knie schmerzt wieder etwas, wie es besonders nach langem Gehen noch häufig zu geschehen pflegt. Was für ein gewagtes Unterfangen, dass ich der reizvollen Monika versprach, ihre Mutter „irgendwo“ in Grünwald schon auffinden zu können und ihr den jetzt in meiner Innentasche befindlichen Brief zu überbringen. Alles, was diese einundzwanzigjährige Aphrodite mir über ihre Mutter sagen konnte, war, dass jene nach diesem Vorort umzuziehen beabsichtigte, ohne genau zu wissen, wohin. Ich muss mich auf mein Finderglück verlassen. Nun gut, ich werde eben alle Leute hier auf der Strasse ansprechen und nach Frau von Dreiling fragen müssen. Dort kommt ein Mann. Er bückt sich nach einem herumliegenden Zigarettenstummel. Wie gut, dass ich nicht der Raucherleidenschaft verfallen bin, sonst würde ich mich auch erniedrigen und aus Not die weggeworfenen „Kippen“ (so heissen jene Zigarettenüberbleibsel) in den Rinnsteinen aufsammeln müssen. „Guten Tag, werter Herr! Entschuldigen Sie. Kennen Sie zufällig eine vor kurzem nach hier zugezogene Frau von Dreiling?“
Mann: Haben Sie zufällig für mich eine Zigarette?
Molar: Leider nicht. Aber hier haben Sie etwas Geld, vielleicht können Sie das Gewünschte auf dem Schwarzmarkt erstehen.
Mann: Danke. Nein, eine Frau „von“ hat sich mir in Grünwald bisher noch nicht vorgestellt. Fragen Sie doch mal die „Pinslerin“ dort drüben. Vielleicht verkehrt sie mit feineren Leuten als ich. Servus!
Somit nähert sich unser Vordichter der ihm Zugewiesenen, die vor einer mitgebrachten Staffelei auf dem Bürgersteig steht, wo sie eine der zwiebelbetürmten bayrischen Weisskirchen mit Strichen zu Papier gebracht hat und sich gerade anschickt, eine gedachte Alpenkette als Hintergrund zu skizzieren.
Molar: Schönen guten Tag, gnädige Frau! Darf ich ein wenig Ihrer Malkunst Zeuge sein? Was für wunderbare Augen sie hat. Nun, vielleicht ist sie schon fünfzig, vielleicht auch jünger. Eine imponierend aussehende Frau.
Malerin: Bitte schön, wenn es Ihnen Vergnügen macht, an meinen geringen Fertigkeiten Gefallen zu finden.
Molar: Ich finde Ihre Fertigkeit überhaupt nicht gering. Im Gegenteil, Sie scheinen ein Naturtalent zu sein.
Malerin: Was für ein Charmeur. Gut sieht er auch aus. Aber mich alte Schachtel will ja doch kein lebenshungriger Mann mehr aufschnüren. Nun, Sie wollen mir wohl ein wenig Mut machen. Das ist sehr nett von Ihnen. Doch habe ich vor einigen Monaten nach zwanzigjähriger Pause erst wieder mit dem Malen begonnen.
Molar: Warum zeichnen Sie Alpen hinter die Kirche? Von hier aus sieht man doch gar keine Berge?
Malerin: Das macht doch gar nichts. Die Hauptsache ist es doch, dass man sie sich dort vorstellen könnte. Auf nahezu allen meinen neuen Bildern male ich als Hintergrund die Alpen. Sie stehen stellvertretend für das ferne und doch nicht unerreichbar Höherliegende in uns und um uns.
Molar: So hat etwa diese weisse Kirche auch eine symbolische Bedeutung?
Malerin: Sie ist unsere Wunschseele in ihrer ganzen Reinheit Dorthin möchten wir alle einmal einkehren und unseren Altar mit Blumen der Liebe schmücken dürfen.
Molar: Nanu, ist sie etwa eine Papstergebene? Gehen Sie oft in die Kirche?
Malerin: Ich glaube, das letzte Mal war es bei der Taufe meines Kindes. Nein, kirchengläubig war ich nur bis zur Kommunion. Danach las ich die Bücher zu vieler Freidenker. So, nun ist diese Skizze fertig. Jetzt werde ich gehen.
Molar: Schade, dass unser Gespräch schon beendet sein muss. Ich würde sie gerne näher kennenlernen. Was ich Sie überhaupt fragen wollte: Kennen Sie zufällig eine Frau von...
Aber den Namen kann er nicht mehr aussprechen, denn ein Windstoss hebt den mit Kirche und Alpenrücken versehenen Papierbogen in die Höhe und weht ihn über die Hecke hinüber in den angrenzenden Friedhof. Unser schnellentschlossener Hilfsbereiter drängt sich sogleich durch das Dornengeheck. Und als er siegreich die aus dem Totengarten zurückeroberte Kirche und Alpenkette ihrer Nachschöpferin überreicht, entdeckt diese an ihm, dass ausser dem von Dornenriss verursachten blutigen Dünnstreifen auf der Wange im Hosenboden ein grösseres Loch entstanden ist, weshalb sie ihm anbietet, mit auf ihr nur „notdürftig“ eingerichtetes Zimmer zu kommen, damit sie die unerfreuliche hintere Öffnung wieder mit Nadel und Faden verschliessen könne.
Molar: Das ist sehr lieb von Ihnen. ich begleite Sie gerne, wenn es Ihnen nichts ausmachen sollte, dass ich während des Gehens meinen Hut über den dornengeschlitzten Hosenboden halte. Übrigens bin ich auch Künstler und heisse Doktor Bröckelberger-Molar.
Malerin: Hab ich mir doch gleich gedacht, dass er etwas Aussergewöhnliches sein muss. Ich heisse Dreiling.
Molar: Wie? Dann sind Sie gar die Mutter von Monika, die mich hierher gesandt hat, um Sie aufzusuchen?
Frau von Dreiling: Meine Tochter hat Sie zu mir geschickt? Das ist ja grossartig! Ich habe schon seit Weihnachten nichts mehr von ihr gehört. Zuletzt war sie in Haniburg. Wo und wann haben Sie sie gesehen?
Und während des weiteren Wechselgespräches klappt die Kirchen- und Alpenproduzentin die Staffelei zusammen. Doch der zwiefach Dornengeritzte lässt es sich nicht nehmen, das hölzeren Gestell unter seinen linken Arm zu klemmen, während die rechte Hand Hut und Stock umfasst und damit, nach hinten gekehrt, vorsorglich jenes missliche, hinderliche Hinternmal seines kecken Heckensprungs verdeckt. So ziehen die beiden Künstler die Strasse hinab, sie mit dem Zeichenblock in der einen, Zeichenstift in der anderen Hand, er ein wenig humpelnd, doch unverzagt, und lassen uns das Nachsehen. Wäre ich doch auch ein Maler!
Eine halbe Stunde später sitzt unser hosenloser Weisskirchenretter, mit einer über die Knie ausgebreiteten Decke versehen, der rothaarigen Künstlerin in ihrem „Atelier“ gegenüber, und während sie den Riss vernäht, kommen sie schliesslich auf sich zu sprechen.
Frau von Dreiling: Sie sagten, Sie seien auch Künstler? Welcher Kunstgattung huldigen Sie schaffend?
Molar: Ich bin der Dichterei verschrieben.
Frau von Dreiling: Dacht’ ich es mir doch. Das ist ja grossartig! Leben Sie etwa auch von Ihrer Kunst?
Molar: Sie können sich denken, dass dies in unserer heutigen Zeit unmöglich ist. Vor einem Jahr erst ist der Krieg zu seinem Ende gekommen. Meine Gedichte werden kaum einen Verleger finden können, sind diese doch noch bemüht, aus den Trümmerhaufen ihre früheren Bestände hervorzuziehen.
Frau von Dreiling: dasshabe ich doch ein wenig mehr Glück. Wie Sie schon gemerkt haben, ist München voll von amerikanischen Soldaten, die geradezu von einer Tollwut gepackt zu sein scheinen, Andenken zu sammeln, um jene später einmal mit nach Hause zu nehmen. So halten sie nach allem Ausschau, was an das Dritte Reich, besonders aber an seinen Gründer erinnert. Ein Offizier hat vor kurzem hier denjenigen Tisch erstanden, auf dem „er“ seine erste Bierkellerrede gehalten haben soll. Tausend Dollar soll er bei der Versteigerung bezahlt haben. Für dieses Geld könnte ich mir heute fast eine Villa kaufen. Nun, viele deutsche bedauern es, bei Kriegsende in Eile alle Embleme und Erinnungsstücke an „ihn“ und sein Drittes Reich vernichtet oder versenkt zu haben. Jetzt kann man sogar sein „Eisernes Kreuz“ (Tapferkeitsmedaille) für einen ganzen Dollar verkaufen. Aber bei vielen Amerikanern beginnt jene Sammelleidenschaft sich schon auf andere Gegenstände zu erstrecken wie zum Beispiel Kuckucksuhren und Bierkrüge, und, was meiner geringen Kunstfertigkeit entgegenkommt, sie sehen sich nach bayrischen Souvenirs um, kaufen Nippeskram, auf dem sich zum Beispiel eine Alpenkette mit Enzianblüten befindet. So male ich, abgesehen von meinen Weisskirchen, Alpen und Enzian auf Dosen und Schachteln und setze sie an Kioske und Kleinsouvenirläden ab. Nun, man muss sein Talent zu Buche schlagen lassen.
Und während sie so erzählt, blitzen oftmals ihre zwei Goldzähne auf. Und unser wangengeritzter Poet, der sich jetzt, die seinen Körperunterteil umschlingende Decke haltend, mit seiner nun begradigten Hose ins „kleinste“ Nebengemach des „Ateliers“ verfügt, um sich wieder ordentlich zu kleiden, beschaut, dort angekommen und vor einem Spiegel stehend, seine Wangenstrieme: Was für eine wundervolle Frau ist diese gesprächige und kunstbeflissene Ostpreussin doch. Ja, sie wäre vielleicht genau die Richtige für mich und meine Kinder. Ja, meine Kinder! Sie alle befinden sich noch in Hessen, wo ich mich nur noch „flüchtig“ aufzuhalten gedenke. Man ist mir auf die Spur gekommen. Wie schön wäre es, wenn ich für meine Kinder eine aufopfernde Mutti fände, die bereit wäre, mir und meinen Vieren anzugehören. Hermann, Wahrfried und Edelgard wohnen bei der Arztfamilie Renger, und Irmgard habe ich vorerst bei einer jungen Frau mit einem unehelichen Russenbaby untergebracht. Auch ihr muss ich noch dringend Geld überweisen. Sie hat wiederholt geschrieben. Nun, ich werde meinen Stock bemühen müssen. ... Wenn ich doch nur eine neue Mutti finden würde.