Was soll ich nun glauben

Am Dienstag, dem 10. September 1935, pünktlich um zwanzig Minuten nach vier Uhr nachmittags, landet des Führers Maschine auf dem Flughafen Nürnberg. Durch ein kilometerlanges Spalier von Fähnchen schwenkenden, Blumensträusse werfenden und “Heil-Hitler!” rufenden Zehntausenden fährt die Limousine mit dem sehnlichst erwarteten “Erwecker” des Neuen Deutschlands durch die mit Fahnen, Grüngirlanden und sogar von den Fenstersimsen herabgelassenen Teppichen geschmückte Hans-Sachs-Stadt. Und als “des Volkes Vater und Schützer” den Rathaussaal betritt, wo die Oberen aus Stadt, Staat und Partei ihrem Befehlsherren die Hand zur Begrüssung schütteln dürfen, dassbeginnen alle sonst nur für kirchliche Ereignisse bestimmten Glocken der alten Reichsstadt zu läuten. So dröhnen die Glocken eine halbe Stunde lang festlich über die Dächer und in die Strassen und Häuser hinein und verkünden den Beginn des siebentägigen Parteitages der Nationalsozialistischen Partei. Aus allen Gauen nahten sie, sie, die unbedingt dabeisein wollten, um sich stärken und berauschen zu lassen, um ihrem “Erretter Deutschlands” Bewunderung und Ehrerbietung zollen zu dürfen. Über eine halbe Million meist uniformierter Besucher trafen und treffen noch immer mit einem der vierhundertfünfundsechzig eingesetzten Sonderzüge und sonstigen Verkehrsmittel ein, um während dieses “Parteitages der Freiheit” unbedingt an einem oder gar allen der sieben Festtage dabeizusein. Eine Viertelmillion der uniformierten Aufmarschierer wird an der Peripherie Nürnbergs in provisorisch errichteten Zeltlagern untergebracht, während die übrigen Aufmarschierer und Besucher in Hotels, Pensionen, Schulen oder privat logieren. So werden viele Notquartiere geschaffen. Die Nürnberger Wohnungsinhaber rücken zusammen, damit ihr Schlaf- oder Wohnzimmer als vorübergehendes Gästezimmer vermietet werden kann. So hat auch die Witwe FriedassMüller ihr Schlaf-, Wohn- und Kinderzimmer an vier Besucher vermietet, während sie für sich selbst und ihren zehnjährigen Sohn in der Küche eine Notunterkunft bereitete.


Am Montag, dem sechsten Tag des Parteifestes, ist Frau Müller wiederum die erste in ihrer Wohnung, die sich erhoben hat, um aufzuräumen und das Frühstück für ihre vier Gäste vorzubereiten, die pünktlich um acht Uhr die Morgenmahlzeit einzunehmen pflegen.

 

Frau Müller: Wenn meine Gäste wüssten, dass ich Jüdin bin, würden sie Hals über Kopf meine Wohnung verlassen und lieber nachts im Bahnhofswartesaal schlafen. Uns Juden wird ja an allen Erzübeln dieser Welt die Schuld zugeschoben. Es ist leicht, auf jemanden zu schimpfen, der sich nicht verteidigen kann, weil er dies nicht darf, ohne sein Leben zu riskieren. Wir werden für die Entstehung und die Ausbreitung des Kommunismus wie auch für die deutsche Niederlage des letzten Krieges samt der Misswirtschaft unter der “Jüdischen Demokratie” der Weimarer Republik verantwortlich gemacht. Alles, was schlecht, verwerflich und schmutzig ist, kann nur der Jude “angezettelt” haben, während der Vollblutdeutsche nur anständig, treu und gut sein kann. Wir Juden werden immer mehr aus dem deutschen “Volkskörper” als “Bazillus” herausgeekelt, bis die Nazis uns eines Tages das Recht absprechen werden, deutsche, ja, sogar Menschen zu sein. Am Tag, als die jetzigen Reichstage begannen, ist vom Reichserziehungsminister ein Erlass veröffentlicht worden, demzufolge ab nächsten Ostern alle Kinder jüdischer Abstammung, bei denen entweder beide Elternteile oder ein Elternteil jüdisch sind, in eigens einzurichtenden Judenschulen zu unterrichten seien, damit die Einheitlichkeit der Klassengemeinschaft und die Durchführung der nationalsozialistischen Jugenderziehung in den allgemeinen öffentlichen Schulen “ungestört” gewährleistet sei. Ich habe solch eine Angst um meinen Klaus. Er weiss ja nicht, dass er Halbjude ist und demzufolge auch ab nächsten Ostern in eine abgesonderte Judenschule gehen muss. Er hatte sich so sehr auf seinen zehnten Geburtstag gefreut, damit er nun endlich auch ein nationalsozialistisches Jugendehrenkleid als “Pimpf” des “Jungvolkes” tragen dürfe. Sein ganzes Zirnmer ist beklebt mit Bildern des Führers und der Hitlerjugend. Ich muss ihm jeden Tag seine “Uniform”, wie er sein Hemd, seine braune Jacke und Hose nennt, bügeln. Ja, das wird grausam werden, wenn er erfahren muss, dass er nicht dazugehören darf zu allem, was er verehrt und liebt. Vielleicht hätte ich ihn schon darüber aufklären sollen. Aber ich hoffte ja, dass es nicht noch schlimmer mit den antijüdischen Massnahmen werden würde. Ich muss ihn jetzt aufwecken. In einer halben Stunde ist es acht Uhr. Aufstehen! Klaus! Seit er Pimpf geworden ist, darf ich ihn ja nicht mehr “Kläuschen” nennen, denn er sei jetzt, wie er mir sagte, ein “Kämpfer Adolf Hitlers” geworden. Aufstehen!

 

Klaus: Ja, Mutti. Weisst du, was ich geträumt habe?

 

Frau Müller: Was denn?

 

Klaus: Der Führer hat mir eigenhändig ein Eisernes Kreuz angeheftet und mir mit Handschlag gratuliert.

 

Frau Müller: Traum und Wirklichkeit sind leider oft zwei sehr verschiedene Dinge. Beeil dich! Wasch dich schnell! Dein Frühstück steht gleich auf dem Tisch.

 

Klaus: Ja, Mutter. Ja, ich muss mich beeilen. Heute fahren unsere Kameraden aus Breslau wieder ab. Ich bin ja zu einem ihrer Begleiter durch die Stadt ernannt worden. Ich geh’ gleich nachher zum Bahnhof. Schade, dass ich in Nürnberg wohne, sonst hätte ich auch wie viele andere Hitlerjungen nach Nürnberg zu Fuss gehen dürfen. Eine Gruppe aus Ostpreussen ist fünfzig Tage lang marschiert. Denen wurde dann vom Führer die Hand geschüttelt. Das wäre auch für mich die Erfüllung meiner Träume gewesen. Am Samstag war der Tag der Hitlerjugend. Auch ich durfte unter den fünfzigtausend im Stadion vor dem Führer angetretenen Jungen stehen. Ja, ich erinnere mich noch an seine Worte bei diesem Appell an seine deutsche Jugend: “Der deutsche Junge der Zukunft” muss “schlank und rank sein, flink wie ein Windhund, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl”. “Jeder ist verpflichtet, seinem Volke zu dienen, jeder ist verpflichtet, sich für diesen Dienst zu rüsten, körperlich zu stählen und geistig vorzubereiten und zu festigen!” Wir sind “die Zukunft der Nation, die Zukunft des deutschen Reiches”. Ich habe mir diese Rede aus der Zeitung ausgeschnitten und will sie noch über meinem Bett aufhängen. Jetzt schläft ja eine Parteigenossin aus Köln darin. In dem Schlafzimmer wohnt eine Frauenschaftsführerin und ihre Tochter, die eine BDM-Führerin ist. Aber am liebsten unterhalte ich mich mit dem Ortsgruppenführer, Herrn Frommann. Der ist schon seit zwölf Jahren Parteimitglied. Er erzählt mir viel aus dem Grossen Krieg, den er in Nordfrankreich miterlebt hat. Ich kann gar nicht genug hören von dem, was er mir vom grossen Heldenkampf berichtet. Ja, die verdammten Juden haben Deutschland damals den Dolch in den Rücken gestossen. Wer sind eigentlich diese gemeinen Juden, die Deutschland verraten haben? Ich habe noch nie einen Juden gesehen. Ja, Samstag, das war der grösste Tag meines Lebens. Wir durften alle dem Führer in die Augen schauen. Wir sangen die Lieder “Unter der Fahne schreiten wir, unter der Fahne streiten wir” und “Ein Wille eint uns alle, ein Glaube macht uns stark”. Und einer von uns sprach über die Lautsprecher:

 

“Du bist im grossen Werke
Des Volkes nur ein Stein.
Dient’s nicht des Volkes Stärke,
Ist ohne Sinn dein Sein.”

 

Und wir antworteten im Chor, wie wir es vorher lange geübt hatten:

 

Muss einst für dich gestorben sein,
Für dich vor’m Feind verdorben sein,
Wir Jungen gehn voran.”

 

Und dann schworen wir bei der Hakenkreuzfahne unseres geliebten Führers:

 

“Wo du wehst, dassgehen wir,
Wo du stehst, bestehen wir,
Und du wirst nicht fallen,
Eh nicht von uns allen
Auch der Letzte fiel.”

 

Ja, für Deutschland und den Führer werde ich gerne mein Blut opfern. Und sollten wir einst von bösen Feinden angegriffen werden, so will ich in der vordersten Reihe kämpfen und so tapfer sein, wie es der grosse Kämpfer und Krieger Adolf Hitler im Weltkrieg war.

 

Frau Müller: Klaus! Die Gäste kommen gleich. Du musst ihnen noch frische Brötchen und nachher die Zeitung holen.

 

Klaus: Aber ich muss doch gleich zum Bahnhof, um unsere Kameraden zu verabschieden.

 

Frau Müller: Nun, auf eine Viertelstunde früher oder später wird es schon nicht ankommen.

 

Klaus: Meinst du, dass mich heute nachmittag Herr Frommann mit zu den Vorführungen unserer neuen Wehrmacht nimmt? Ich muss unbedingt dabeisein, Mutti. Es sollen ganz neue Panzer und Geschütze vorgeführt und auch Scheingefechte geliefert werden.

 

Frau Müller: Ja, dann fragst du nachher mal deinen neuen “Onkel”. Aber jetzt geh und hol zwölf frische Brötchen. Hier ist das Geld.


Und zehn Minuten später haben sich die vier feierlich gestimmten Gäste an den Frühstückstisch gesetzt und beschmieren die noch warmen Semmeln mit Butter und Marmelade oder “köpfen” ihr weichgekochtes Ei, während Frau Müller den Kaffee einschenkt.

Herr Frommann: Sehen Sie, es geht mit allem wieder bergauf. Butter, beste Marmelade, echter Bohnenkaffee, alles kann sich der deutsche heute wieder leisten.

 

Frau Giesebrecht: Alles haben wir dem Führer zu verdanken. Ohne ihn nagte das deutsche Volk immer noch am Hungertuche.

 

Frau Bröckelberger: Genauso ist es! Seit der Machtübernahme hat der Nationalsozialismus Erstaunliches geleistet. Wenn man bedenkt, dass wir wie kaum wohl ein anderes Land auf Rohstoffimporte angewiesen sind, dass wir im Gegensatz zu den Engländern und Franzosen keine Kolonien mehr haben, dass wir weiterhin fünfzehn Jahre lang von unseren Feinden bis aufs Blut ausgepresst worden sind, dass wir in jener Zeit über fünfzig Milliarden Mark an Reparationen zu entrichten hatten und vor dem Ruin unserer Wirtschaft standen, so ist es eine unglaubliche Leistung, dass wir schon heute nach zweieinhalb Jahren des Dritten Reiches wirtschaftlich besser dastehen als manches der reicheren Länder in der Welt. Und alles das haben wir allein unserem Führer zu verdanken.

 

Herr Frommann: Ja, es scheint wie ein Wunder, dass der Führer in so kurzer Zeit die Zahl der Arbeitslosen von über sechseinhalb Millionen um ganze fünf Millionen reduzieren konnte.

 

Frau Giesebrecht: Wir werden die restlichen 1,7 Millionen Arbeitslosen auch noch in den nächsten Monaten voll beschäftigen können. Überall regt sich eine neue, begeisterte Kraft. Jeden Tag wachsen die Reichs- und Landstrassen und vor allem die neuen Autobahnen.

 

Heidrun: Ja, darum beneidet uns schon das Ausland. Eine spanische Zeitung schrieb, die Reichsautobahnen seien “die Pyramiden des Nationalsozialismus”.

 

Frau Bröckelberger: Wir werden noch ganz andere Pyramiden bauen. Letzten Mittwoch hat der Führer den Grundstein zur grössten Kongresshalle der Welt gelegt. Sie soll der erste Riese unter den Bauten des Dritten Reiches werden und auf Jahrhunderte hin jährlich die Auslese des nationalsozialistischen Tausendjährigen Reiches versammeln.

 

Frau Giesebrecht: Ja. Solange wir als Volksgemeinschaft vereint und stark bleiben, können wir selbst das sonst unmöglich Erscheinende erreichen. Der Führer verblüfft die ganze Welt mit seinen Erfolgen.

 

Frau Bröckelberger: Wer hätte vor drei Jahren noch davon zu träumen gewagt, dass es heute keine Klassenunterschiede mehr geben würde, dass das ganze Volk - von einigen Dummköpfen abgesehen, die aber entweder noch bekehrt werden oder, wie es in der Proklamation des Führers so schön hiess, “wenn es im Guten nicht geht”, auch mit “brutaler Rücksichtslosigkeit” “durch das Konzentrationslager den nationalen Interessen” gleichgeschaltet und angepasst werden -, dass also alle deutschen zu einer Einheit verschmolzen sind, in der “ihr Wollen in einem einzigen Willen in Erscheinung” tritt. Ja, Adolf Hitler ist Deutschland, und Deutschland ist Adolf Hitler. Er ist der grösste Staatsmann, den Deutschland je in seiner Geschichte gehabt hat. Er ist sogar nach nur zweieinhalb Jahren Wirkungszeit viel grösser als Bismarck, denn der Führer wird nicht nur alle deutschen heim ins Reich holen und somit die äussere Einigung Deutschlands vervollständigen, nein, er vollzieht auch die Einigung im Innern, indem er uns alle zu einem Willen und zu einer in sich geschlossenen Volksgemeinschaft formt, welche uns somit eine Stärke verleiht, mit der wir noch Grosses in der Welt vollbringen werden können.

 

Herr Frommann: Ja, er hat die Schulden, die uns die Siegermächte in Versailles zudiktierten, gelöscht. Indem der Führer im März dieses Jahres unserer Nation ihre volle Wehrhoheit zurückgab, hat er uns auch von der letzten Schmach erlöst und Deutschland damit von allen Fesseln und Restriktionen befreit. Wir feiern mit diesem siebten Reichsparteitag die Rückgewinnung der vollen nationalen Freiheit. Wer hätte vor drei Jahren an so etwas zu denken gewagt?

 

Heidrun: Aber unser Propagandaminister sieht den grössten Verdienst unseres Führers darin, dass er dem “Ansturm des Weltbolschewismus” für Deutschland wie auch für das übrige Abendland den Riegel vorgeschoben hat, und damit “die ganze abendländische Kultur vor dem Abgrund ihrer vollkommenen Vernichtung” gerettet haben dürfte.

 

Frau Giesebrecht: Ja, darin sehe ich ebenfalls seine bisher erstaunlichste Leistung. Der Kommunismus ist in Deutschland restlos besiegt. Mit den paar tausend Juden und “Andersdenkern” werden wir auch noch fertig.

 

Herr Frommann: Frau Müller! Wo ist denn der Klaus? Ist er schon bei seinen Kameraden?

 

Frau Müller: Er holt Ihnen nur noch schnell die Zeitung. Ich komme mir unter diesen Nazis vor wie ein Maikäfer im Bienenkorb. Wenn die entdecken, dass ich nicht zu ihnen gehöre, werden sie mich stechen und hinausbefördern. Ja, ich möchte ja gerne weg von hier. Aber wie denn und wohin denn? Ich habe keine Verwandten im Ausland. Ich habe auch kein Geld, um ein Visum kaufen zu können. Ich fürchte mich. Es wird immer schlimmer.

 

Heidrun: Was hat Sie denn, Herr Parteigenosse, bisher am meisten beeindruckt?

 

Herr Frommann: Eigentlich alles. Ein Höhepunkt jagte den anderen. Aber natürlich waren für mich unsere beiden Aufmärsche das Wunderbarste, denn ich durfte als einer der hunderttausend politischen Leiter dabeisein, als wir am Donnerstag abend dem Führer mit einem Fackelzug durch die Strassen Nürnbergs Ehrerbietung und Dank abstatteten und uns am folgenden Tag alle auf der Zeppelinwiese unter den mitgebrachten zwanzigtausend Fahnen aufstellten, um der Rede des Führers zu lauschen. Das bleiben für mich ewig unvergessliche Eindrücke.

 

Frau Giesebrecht: Ja, wir sassen hier am Radio und haben die Rede mitverfolgt. Aber ich glaube, dass gestern auf dem Luitpoldfeld eine noch grössere Stimmung geherrscht haben muss, als nahezu hundertzwanzigtausend Männer der SA, SS, NSKK und Flieger sich vor dem Führer aufstellten und mit ihrem obersten Befehlsherren die Toten ehrten. Ich wäre gerne dabeigewesen, aber es gab ja nur für wenige tausend Zuschauer Platz.

 

Heidrun: Aber ich stand gestern nachmittag direkt am Adolf-Hitler-Platz, als jene hundertzwanzigtausend in langen Kolonnen an unserem Führer vorbeimarschierten, um ihm den deutschen Gruss zu entbieten und ihm in die Augen zu schauen. Fünf Stunden lang grüsste der Führer seine Getreuen.

 

Frau Giesebrecht: Hat er denn die ganze Zeit seinen rechten Arm hochhalten können?

 

Heidrun: Nach jeder Kolonne konnte er seinen Arm ein bis zwei Minuten ausruhen, bevor eine neue Kolonne heranmarschierte. Aber dann war der Arm wieder für acht bis zehn Minuten kerzengrade ausgestreckt. Ja, der Führer verfügt über Willenskräfte, die ans Göttliche grenzen.


Klaus, der, mit der Zeitung zurückkommend, hinter der halbgeöffneten Küchentür lauschend stehen geblieben ist: Wir Pimpfe haben oft unter uns Wettkämpfe ausgetragen, wer wohl am längsten seinen Arm ausgestreckt halten kann. Keiner hat es über sechs Minuten geschafft. Der Führer ist in allem der Erste.

 

Frau Bröckelberger: Ja, der Führer ist ein uns von Gott Gesandter. Wir tun gut daran, in allem seinen Anweisungen zu folgen.

 

Herr Frommann: Ich habe leider vorgestern abend die Rede des Führers im Rundfunk versäumt, die er vor Ihnen in der Luitpoldhalle gehalten hat. Erzählen Sie doch mal.

 

Frau Bröckelberger: Zwanzigtausend der NS-Frauenschaft waren versammelt. Der Führer hat uns nachgewiesen, dass “die Gleichberechtigung der Frau”, wie sie von den judenverhetzten Demokraten und Kommunisten propagiert wird, im Grunde eine Entrechtung der Frau sei. Denn wir würden durch das Gefühl bestimmt, der Mann aber vom Verstand. Durch diese Tatsache ergäben sich schon völlig unterschiedliche Gebiete, auf denen jedoch jeder seine volle Gleichberechtigung habe. Es sei des Mannes Aufgabe, Kriege zu führen, nicht aber Aufgabe der Frau. Der Mann habe für das Volk einzustehen, die Frau aber für die Familie. Sie könne sich keinen grösseren Adel erwerben, als die Mutter von Söhnen und Töchtern zu sein. Er, der Führer, wolle die deutschen Männer alle wieder anständig, ehrliebend und tapfer machen mittels der allgemeinen Wehrpflicht, damit auch wir Frauen auf unsere Männer wieder stolz sein dürfen. Ja, es war eine beeindruckende Rede. Viele von uns hatten Tränen der Rührung in den Augen.

 

Frau Giesebrecht: Und Sie, Frau Müller, was hat Sie denn bisher am meisten beeindruckt?

 

Frau Müller: Was soll ich bloss sagen? Ich habe leider immer so viel zu tun gehabt, dass ich im Radio nur die grossen Reden mitverfolgen konnte. Ja, das Feuerwerk anlässlich des grossen Volksfestes am Samstag war wohl für mich das Eindrucksvollste.

 

Frau Bröckelberger: Haben Sie denn noch gar nicht den Führer von Angesicht zu Angesicht gesehen? Das ist doch immer der erhebendste Moment eines jeden Parteitages.

 

Frau Müller: Ach wissen Sie, mir geht es so wie den Parisern. Alle Besucher der Seinestadt fahren als erstes auf den Eiffelturm, während sie selbst noch nie oben gewesen sind.

 

Heidrun: Jede von uns aus dem BDM würde ihren letzten Schmuck veräussern, wenn sie die Möglichkeit hätte, den Führer hier auf dem Reichsparteitag sehen zu dürfen. Ich verstehe nicht, wie Sie gar kein Interesse daran haben können, dem Führer ebenfalls in die Augen zu schauen.

 

Frau Müller: Aber er kommt ja jedes Jahr wieder, irgendwann wird es schon klappen. Ich lege aber gar keinen Wert darauf. Von mir aus kann er bleiben, wo der Pfeffer wächst. Ich habe das ungute Gefühl, dass er uns Juden noch böse mitspielen wird.

 

Herr Frommann: Ach, dasskommt ja mein Klaus! Guten Morgen!

 

Klaus: Guten Morgen, Onkel Frommann! Guten Morgen allerseits! Hier bringe ich Ihnen den “Völkischen Beobachter”.

 

Herr Frommann: Danke, mein Junge!

 

Klaus: Onkel Frommann! Gehen Sie heute nachmittag zu den Vorführungen der Wehrmacht?

 

Herr Frommann: Natürlich! Du willst wohl mitkommen, was?

 

Klaus: Ja! Nehmen Sie mich mit?

 

Herr Frommann: Ja, gern. Ich wünschte, ich hätte so einen prachtvollen Jungen. Wir müssen aber hier schon um zwölf Uhr aus dem Haus. Denn es wird voll werden.

 

Heidrun (die Zeitung aufschlagend): Hier sind die Gesetze abgedruckt, die gestern abend von dem seit vierhundert Jahren zum ersten Male wieder in Nürnberg zusammenberufenen Reichstag einstimmig beschlossen worden sind. Endlich sind die entscheidenden Massnahmen, auf die wir Nationalsozialisten so lange hofften, getroffen und zum Gesetz erhoben worden. “Eheschliessungen zwischen Juden und Staatsbürgern deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten.”

 

Frau Bröckelberger: Na endlich wird keine Verunreinigung unseres arischen Blutes mehr stattfinden können!

 

Heidrun: “Ausserehelicher Verkehr zwischen Juden und Staatsbürgern deutschen oder artverwandten Blutes ist verboten.”

 

Frau Giesebrecht: Damit hört auch alle Unzucht auf, und Anstand kehrt wieder in die gesäuberte deutsche Volksgemeinschaft zurück.

 

Frau Bröckelberger: Ich glaube, Hitlers grösste Leistung besteht darin, dass er die Gefahr um den rassischen Bestand unseres deutschtums richtig erkannt hat und geeignete Schritte einleitet, die zur Blutreinigung und letztlich zur totalen Gesundung des gesamten Volkskörpers führen.

 

Heidrun: “Juden ist das Hissen der Reichs- und Nationalflaggen und das Zeigen der Reichsfarben verboten.”

 

Frau Müller: Um Gottes willen! Dann darf ich ja keine Fahne mehr draussen aufhängen oder hier auf den Tisch stellen. 0 weh!

 

Heidrun: Das Gesetz tritt am Tag der Verkündigung ... in Kraft. Nürnberg, 15. September 1935.

 

Frau Müller: Das heisst, ich habe mich jetzt schon strafbar gemacht, weil ich nicht gestern nacht noch alle Hakenkreuzfahnen und Hakenkreuzembleme beseitigt habe? Wenn ich keine “Reichsflagge” mehr aus dem Fenster hängen darf, dann weiss jeder, dass ich Jüdin bin. Kein Gast wird mehr bei mir übernachten wollen.

 

Klaus: Hat jemand von Ihnen schon einmal einen Juden gesehen?

 

Frau Bröckelberger: Ja. Ich habe schon viele Juden gesehen. Man erkennt sie auf den ersten Blick.

Klaus: Wie sehen sie denn aus?

 

Frau Bröckelberger: Sie sind das Gegenteil von dir und deiner Mutter.

 

Klaus: Aber du, Mutter, hast mir doch gesagt, dass sie ebensolche Menschen sind wie wir und genauso aussehen wie du und ich. Was soll ich nun glauben?


Was ist nun aber später aus Frau Müller und ihrem Sohn geworden?

 

Frau Müller ist in Auschwitz vergast worden. Klaus verübte im Konzentrationslager Buchenwald Selbstmord, indem er in den elektrischen Zaun ging.

 

Haben denn die deutschen damals nicht gemerkt, wohin des Führers Intoleranz gegen Minderheiten und seine Wehrvorbereitungen führen würden?

 

Hitler hat nie verfehlt zu sagen, was er mit all denen vorhabe, die nicht dem nationalistisch-deutschen Willen, das heisst  s e i n e m Willen, folgen wollten. Er sprach diese Drohung auch schon deswegen gerne aus, um die Widerspenstigen einzuschüchtern und doch noch zu Mitläufern zu bekehren. Aber jedesmal, wenn er diese, sagen wir, “Todeskarte” auf den Tisch legte, war sie begleitet von einigen Trumpfkarten, welche von all den sie Bestaunenden allein wahrgenommen zu werden schienen. So wurde die Pik-Sieben, wie ich die Nürnberger Gesetze in diesem Kartenspiel einmal nennen möchte, erst am sechsten Parteitag ausgespielt, als alle Trümpfe in den Händen der Partei schon siegreich gestochen hatten und keine Chance mehr liessen, jene letzte Karte zu verlieren. Ich bin fast versucht zu sagen, dass Hitler sein grösstes Genie in der allgemeinen Massenpropagandassund seiner demagogischen Willensbeeinflussung bewiesen hat. Jede Nation, der ein Überredungskünstler wie Hitler beschieden sein sollte, muss ihm - wie man so sagt - “auf den Leim gehen”.

 

Aber musste nicht bei Kriegsschluss, als man doch mit eigenen Augen sehen konnte, was jener “Überredungskünstler” im Endeffekt dem deutschen Volk beschert hatte, endlich jedem des Führers böses Spiel offenbar geworden sein? Wie haben zum Beispiel nach Kriegsende Frau Bröckelberger und ihre Tochter über Hitler gedacht?