Am letzten Märztag ist es endlich soweit. Denn als unser Bodenseepoet den Schalterraum der Post betritt, wird er auch sogleich von dem auf sein Erscheinen schon wartenden Herrn Stegmann freudestrahlend begrüsst: “Jawohl, Herr Doktor! Heute muss Ihr Glückstag sein! Herzlichen Glückwunsch! Ihre Münchnerin hat geschrieben! Hier ist der Brief!”
Und sein Empfänger, der alsbald das Kuvert in der Hand hält, glaubt seinen Augen und Händen zuerst nicht trauen zu dürfen. Sein Herz beginnt auf einmal ganz mächtig zu schlagen, und er fühlt, wie das Blut in den Schläfen zu glühen beginnt. Wie ein Traumwandler begibt sich unser Beglückter, von dem verständnisvollen Schmunzeln und den leuchtenden Augen des Postbeamten begleitet, zu der nächsten Promenadenbank und starrt, dort Platz nehmend und noch unschlüssig, was er als nächstes zu tun habe, auf den Brief und dessen Anschrift. Und auf einmal kommt es ihm ganz ungeheuerlich vor. Ein Schauer rieselt über seinen Rücken. Denn er hat ganz urplötzlich die Gewissheit, dass er dieses blaue Kuvert mit den gleichen Schriftzügen samt Adresse schon einmal gesehen hat. Wie eigenartig ist mir doch zumute. Ich fühle mich ganz benommen. Ich könnte schwören, dass ich eben diesen Briefumschlag samt der an mich adressierten Beschriftung schon irgendwo einmal gesehen habe. Und dann noch dieses Siegel auf der Rückseite mit dem in sich verschlungenen M und H. Obwohl ich dieses noch nie erblickt haben kann, scheine ich es schon genau zu kennen. Eigenartig. Aber jetzt will ich sofort den Brief öffnen. Ich kann vor Aufregung nicht mehr warten. Ja, sie hat geantwortet. Das kann nur ein gutes Omen sein.
Und er öffnet mit dem - wie es einem Dichter geziemt - immer mitgeführten Schreibstift das blaue Kuvert, entnimmt diesem zwei ebenfalls blaue Papierbögen und liest klopfenden Herzens:
Gräfelfing, den 26. März 1949
Lieber Hans Winfried!
Für Deinen so wunderbaren Brief, mit welchem zu beglücken Du mich für würdig genug befunden hast, möchte ich Dir von ganzem Herzen danken. Nie habe ich einen solch erhabenen und mich bewegenden Brief in Empfang nehmen dürfen. Du sprachst so vieles aus, was ich nie zu sagen oder zu schreiben gewagt haben würde. Und doch fühle ich, dass Du mit allem, was Du sagst, so unerforschlich tiefe Wahrheiten ans Tageslicht förderst. Dein hoher Gedanken- und Dein lichter Seelenflug künden von Deiner wahren Herkunft. Ja, ich fühle mich Dir so verbunden. Es kann nur gut sein, wenn sich zwei gleichgestellte Seelen, die vom Verborgenen empfindend wissen, die Hand zur gemeinsamen tapferen Durchquerung dieser Erdenhölle geben, erhöht und bestärkt doch das Mit- und Nebeneinandergehen die Kraft zu den dringend notwendigen Taten der Nächstenliebe. Wie gerne würde ich sagen können: “Mein lieber Dichterfreund! Nimm mich bei meiner Hand. Lass mich Deine Wegbegleiterin sein, und, falls ich von Dir als wertvoll genug erachtet werde, akzeptiere mich ganz als die Deine, obwohl ich mit meinem kleinen Licht dein strahlendes wohl kaum zu vermehren in der Lage sein dürfte. Aber, mein lieber Hans Winfried, Du hast schon eine Frau, die Dich Lichterfüllten auf Deinen Lebenspfaden begleitet. Sie selbst muss auch ein helles Licht sein, dass sie es sonst kaum vermocht haben könnte, sich Dir und Deiner Führung anzuvertrauen. Nur sie darf deshalb die Gunst besitzen, Deine alleinige Begleiterin zu sein.
Was uns beiden verbleibt - und ich habe mich zu dieser Entscheidung erst nach langem inneren Kampf durchringen können -, ist allenfalls ein gelegentlicher Briefwechsel, der uns gegenseitige Bestärkungen zukommen lassen mag, damit wir für alle Hindernisse auf dem dornigen Lebensweg besser gewappnet und gestärkt sein können. Jedoch dürfen wir keine weiteren Annäherungen suchen, dassuns widrigenfalls vielleicht die Liebe dazu verleiten könnte, Deiner Frau weh zu tun. Lieber will ich die grössten Seelenqualen erleiden als vor meinem Gewissen schuldig werden, einem anderen Menschen aus egoistischen Motiven Leid zugefügt zu haben.
Lieber Hans Winfried! Ich fühle mich Dir seelisch eng verbunden. Trotzdem dürfen wir nie aus den uns distanzierenden Kreisen treten, um uns in einem neuen Kreis zu einen. Wir haben beide in den uns umfriedenden Grenzen nach bestem Vermögen zu wirken, um das Ewig-Gute zu verbreiten und unsere Liebe zu unseren Nächsten mit Mächtigkeit leuchten zu lassen.
Später einmal, wenn von unseren Seelen die Zeiten wie welke Blätter abgefallen sein werden, dürfen wir uns im ewigen Licht zusammenfinden, wo wir uns von Herzen umarmen wollen, ohne auch nur irgendeiner anderen Seele dabei weh tun zu müssen.
Einen Teil dieser zukünftigen Liebkosungen möchte ich Deiner Vorstellung jetzt schon als eine Art gemeinsamer Vorfreude anheimgeben.
Deine Dir von Herzen geneigte
Maria
Und während unser innerlich Jubilierender diesen
Brief mannigfach mit Küssen bedeckt, scheinen seine Zwerchfellkitzler, eben jene Schmetterlinge und jene samtbeinigen Ameisen, ihr so himmlisch wohltuend kribbelndes Hin und Her und Auf und
Nieder zu verzehnfachen.
Ja, sie liebt mich! Das steht zweifellos fest. Sie sagt es zwar nicht offen, aber es ist doch aus jeder Zeile herauszulesen. Hurra! Jetzt bin ich der glücklichste Dichter dieser Welt. 0 Maria! Ich küsse dich und deinen Brief. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich möchte es in die ganze Welt schreien. Ja, wir gehören zusammen. Sind unsere Körper auch getrennt, so sind unsere Herzen doch vereint. Und nichts in der Welt soll diese beiden auseinanderreissen dürfen.
Wie freue ich mich über seine Freude. Gestern noch
fühlte ich tiefstes Mitleid mit unserm Dichtermann, und heute bin ich über ihn so ganz verzückt. Wie schnell sich doch bei Menschen Leid und Freud ablösen können.
Die Liebe kann Berge versetzen. Warum sollte sie eine vom Sturm mit Macht zur Erde gebeugte Pappel nicht wieder nach oben schnellen lassen können? Ja, unser wieder aufgerichteter Poet befindet sich bei seinen Berg- und Talfahrten heute wieder einmal ganz oben. An einem solchen Tag muss alles ihm gelingen, auch wenn er dichtend zur Feder greifen sollte.
Das ist eine vortreffliche Idee! Lassen wir ihm ein Gedicht zukommen, um seine Freude ins Unermessliche zu heben.
Ich habe dir zu diesem Zweck heute einmal einen Band der himmlischen Bücher der Goldenen Poesie mitgebracht. Sie sind, wie du siehst, mit goldener Tinte geschrieben. Aus diesem Buch wähle ein Gedicht nach eigenem Gutdünken aus und raune es unserem gefalterten Vordichter zur nächtlichen Stunde zu.
Wer aber hat jenes goldene Gedichtbuch verfasst?
Es ist eine Anthologie von Gedichten höchster Dichtergeister. Du wirst darin auch jenes dir schon bekannte Gedicht “Stiller Anbeginn” finden können.
So sind wohl die meisten der vollendetsten Gedichte grosser Dichter dieser Erde eigentlich die Schöpfungen höherer Lichtwesen?
Ja, so ist es. Oft gehören die irdischen Dichter jener lichtvollen Geisterschar selber an und haben solch güldene Gedichte im Jenseits schon verfasst, bevor sie wieder inkarnierten, um auch die Erdbewohner dieser höchst persönlich teilhaftig werden zu lassen. Grosse Dichtungen sind meistens Kraftwerke der Liebe und vermögen gar oft dem ahnungsvollen Menschen das Vorhandensein eines höheren Zuhauses zu vermitteln.
Du sagtest mir einmal, dass alles in Gottes Schöpfung nach einem Plan geordnet sei, dass es demnach auch keinen Zufall geben könne. Wenn ich jedoch eines dieser Goldgedichte nach eigenem Ermessen erwähle, so bestimme ich doch zum Beispiel auch, welches davon mit in unser Buch aufgenommen werden wird.
Du glaubst hierin eine freie Auswahl zu haben. Aber in Wirklichkeit wirst du bei deiner Suche inspiriert sein, wie wir alle jeweils von uns übergeordneten Wesenheiten inspiriert sind. Wir befinden uns alle in einer langen Kette von jeweils höherer Inspiration. Der Übergeordnete hilft dem unter ihm, oder besser gesagt, dem nach ihm Kommenden.
Wo bleibt aber dann mein freier Wille?
Du hast diesen unter anderem dazu erhalten, um dich entscheiden zu können, in dieser Kette entweder mitwachsen zu wollen aus dem Erkennen heraus, dass wir alle eine Einheit sind, oder dich einer solchen Anschliessung zu versagen, weil du noch nicht das Gute dieser uns alle einenden Verstrickung erkannt hast oder erkennen willst und dementsprechend allein zum Licht zu streben trachtest. Aber auch der Eigenwillige und der Zögernde werden eines Tages die Liebe zum “Wir”, zur verbindenden Verkettung der Allseele, in sich erfahren und sich dem allgemeinen Emporstreben als nützliches, mithelfendes Glied einordnen. Der freie Wille vermag diesen Eingliederungs- und Mitwirkensprozess zwar zu verzögern oder zu beschleunigen, zu verhindern jedoch vermag er ihn nicht.
Herrscht denn gar keine Willkür in der Schöpfung Gottes?
Willkür herrscht nur in unserer Vorstellung, solange wir noch nicht die Ordnungen erkannt haben. In Gottes Schöpfung ist alles geordnet und wohl geplant. Wo wir Chaos vermuten und nur Ungeordnetes, Widersinniges sehen, steht doch die höhere Ordnung dahinter, die ewig aufbauend und wohlüberlegt jeden Stein auf den anderen setzt. Der fertige Plan ist schon in Gedanken vorhanden. Und was der Grosse Geist in Gedanken hält, ist Realität, ist Geschaffenes, während wir diese Realität erst als etwas Werdendes nachvollziehen müssen. Denn wir sind gleich Pflanzen, die sich dem Licht der Liebe entgegenstrecken. Doch müssen wir unser Wachstum erst aus freiem Willen heraus vollziehen, während unsere Endform zugleich jene Urform ist, wie sie sogar schon gedacht war, bevor wir im Samen steckten. Und unsere Endform ist wunderliebewirkende Unendlichkeit.
In der kommenden Nacht aber wird in der
Dichterbaracke ein Gedicht geboren, das jedoch “unehelicher” Art zu sein scheint, fehlen ihm doch alle molaresken Zutaten.
VORFREUDE
Wenn bald die farb’gen Blumen wieder
spriessen
Im grünen Hain und Waldes Moos,
Und ich dann träumend gehe durch die lieben Wiesen,
Dann fühle ich mich wieder gross.
Und werde durch die Tannen
wallen,
Nicht suchen, sondern finden nur.
Es öffnen sich mir Gotteshallen,
Vergessen ist des Winters Spur.
Und frag’ ich dann, warum ich
lebe,
So jauchzt das Herz in schwelgend’ Tönen,
dass mich nun eine sanfte Hand hinwegführt
in das Reich des Schönen,
Wohin die Sehnsucht mich gesandt.
Und ich der Sonne Lider hebe,
Mein Aug’ entzünden kann in ihrem Blick,
Und ich ihr freudig flüstre dann: Ich bin zurück.