Versiegelt Geheimnis

Wir waren dabei. Aber wir wollen in diesem Buch, auch wenn du es bedauern solltest - was ich verstehen kann -, nur eine Auswahl der wichtigsten Begebenheiten der inneren und äusseren Handlung in kurzer Skizzierung wiedergeben und müssen den, der gewillt ist, mehr zu wissen, ersuchen, die eigene Vorstellungskraft zusätzlich zu bemühen, um die hier übersprungenen Lücken auszufüllen.

 

Molar verkaufte an nämlichem Nachmittag einundvierzig Paar Bastschuhe, fand sich mit zwölf Minuten Verspätung am verabredeten Treffpunkt vor dem Münchner Rathaus ein und führte seine jugendliche Begleiterin, die sich auch „zufällig“ ein wenig verspätet hatte, eingehakt zum „Bayrischen Hof“, wo beide seinen Siegestag bei Forellengericht und Weisswein gut gelaunt feierten. Nach dem Essen begaben sie sich in die dem Hotel einverleibte Tanzbar, in deren rotem Dämmerlicht in einer Ecke getanzt wurde. Belauschen wir sie also bei einem Gespräch, das die beiden beim Tanze führen, wobei wir bemerken wollen, dass an ihrem Tischchen die zweite Flasche Sekt schon angebrochen ist.

 

Fräulein Brünn: Darf ich fragen, wie alt Sie sind?

 

Molar: Ich befindet mich in meinem zweiundvierzigsten Jahr. Und Sie, liebes Fräulein Hilde?

 

Hilde: Ich werde im Mai einundzwanzig. Wann haben Sie Geburtstag?

 

Molar: Am neunten April.

 

Hilde: Dann sind Sie ein Widder. Das hab ich mir doch gleich gedacht, dass er ein Feuerzeichen ist. Flammende Leidenschaft, doch bald verraucht. Nun ja, meinetwegen:

 

Molar: Und was ist Ihr Sonnenzeichen?

 

Hilde: Ich bin Zwilling.

 

Molar: Hat mir nicht die liebe Frau Katzenbach gesagt, dass ihren Karten zufolge in meinem Leben noch mal ein Zwilling eine grosse Rolle spielen werde? Ist Hilde vielleicht das Mädchen, zu welchem mich meine insgeheime Sehnsucht treibt? Ist sie diejenige, die mir bestimmt ist, mein Schicksal, wenn auch nicht zu ändern, so doch zu erleichtern? Ich fühle mich Ihnen ganz innerlich verbunden. Darf ich Sie küssen?

 

Hilde: Auf diesen Moment habe ich schon den ganzen Abend gewartet. Warum fragt er erst? Aber lieber Herr Molar, Sie sind doch doppelt so alt wie ich und mindestens zehnmal so weise. Wie können Sie sich für ein so einfältiges Ding wie mich ernsthaft interessieren?

 

Molar: Liebes Fräulein Hilde, vor der Liebe und der Schönheit muss sich alle Weisheit in Bescheidenheit beugen. Ihre Gegenwart verzaubert mich und macht mich doppelt so jung. Wir sind deshalb genau gleichaltrig, und wenn wir uns küssen, dann werden wir es erleben, dass wir gar kein Alter mehr haben, dass wir aus der Zeit gehoben sein werden.

 

Möchtest du noch ein wenig zuschauen, lieber Leser, oder wollen wir lieber einen Sprung - wenn nicht gar selbst ins Bett, so doch an das Bett - machen, in welchem unser Chevalier de Seingalt-Molar eine symbolische Verjüngung erfährt? Aber auch hier scheint es uns - nicht allein der Diskretion halber - angebracht zu sein, uns erst in dem Augenblick einzufinden, welcher gelegen erscheint, unseren Dichter zu inspirieren.

 

Du drücktest dich soeben so geheimnisvoll aus - wie so oft -, indem du sagtest: „nicht allein der Diskretion halber“. Was wolltest du damit wirklich sagen?

 

Ein sich ent-dichtender Geist, der aus der Ver-dichtung der Welt tritt, um mit staunendem Erkennen-dürfen in der Weite der Dichtung Gottes einherzugehen, steht in der Ahnung der ihn erwartenden Verzückungen, so dass es ihm unmöglich erscheinen will, rück-fällig zu werden. Jedoch bin ich mir wohl bewusst, dass ich nicht unbedingt bei dir, lieber Leser, ein ähnliches Mass an Ent-rückung voraussetzen darf, weshalb ich auf deinen Wunsch hin auch gerne bereit sein werde, dich als stillen Betrachter ein halbes Stündchen in die Zeit zurückzuversetzen und dort allein zu belassen, so du das Bedürfnis verspürst, deine eigene Vorstellung ebenfalls wieder zu verjüngen. Also soll ich dir ein halbes Stündchen Zeit geben?

 

Nein, nein, fahre nur fort in deiner beziehungsweise unserer Vorstellung. Mir ist es einerlei, solange sie nur interessant bleibt und mich nicht zum Gähnen verführt.

 

Molar: Jetzt schläft sie, die Wunderartige, sie, ein Sinnbild ewiger Jugend. Sie ist so schön, dass ich ihre Schönheit bedichten könnte. Wie eigenartig, dass mich mein Schicksal am gleichen Tag doppelt sieghaft hervorgehen liess und mir anlässlich der Übergabe meines in Worte gegossenen „Lebendigen Seins“ sozusagen als Austausch ein wahrhaft „lebendiges Sein“ in Form eines blond-blauäugigen Mädchens in die Arme legte. Ja, ich bin meinem Schicksal dankbar für so vieles, wenn es auch oft sehr hart mit mir verfuhr. Aber ich hege die stille Zuversicht, dass dieses es mit mir, im ganzen gesehen, doch nur gut meint. So ein junges Mädchen lässt mich wahrhaftig mein Alter vergessen und hebt mich hinauf in die Zeitlosigkeit, in der die ewige Liebe herrscht. Möge sie mir doch auch noch ganz auf dieser Erde zuteil werden. Ich brauche diese Verjüngung sowohl im Seelischen als auch im Geistigen, so ich als Dichter bestehen will. ... Rühret mir nicht an der Seele des Dichters ... Nanu, was ist denn das? Der Anfang eines Gedichtes etwa? Ja, ein Gedicht will aus meinem Geiste hervortreten. Setze ich mich doch sogleich an den Tisch und schreibe auf, was sich an das Licht der Welt hervordrängen will. (Die Erde ruht ja noch in Finsternis, und somit ist ihr Licht, von dem er spricht, nur ein künstlicher Schein.)

 

Erste und letzte der singenden Strophen fliessen ihm leicht von der „goldenen“ Feder. Wir beabsichtigen nicht, uns bei diesem in Anführungsstrichen gesetzten Wort selbst zu loben, denn wir glauben uns bescheidener, weil wissender geworden zu sein in dem Bewusstsein, dass nichts werden kann, was nicht schon ist. Und, um die Wahrheit zu sagen, handelt es sich hier nur um eine „vergoldete“ Feder.

 

Aber die beiden mittleren Strophen wollen ihm nicht gelingen. Warum wird mir die Mitte des Gedichtes so schwer? Doch nach zweistündigem Ringen um den Sinn und die Worte gibt er sich zufrieden und tauft sein Poem - ist es wirklich das „seinige“? -

 

Versiegelt’ Geheimnis“.

VERSIEGELT’ GEHEIMNIS

Rühret mir nicht
an der Seele des Dichters,
wenn sie verjüngend
dem Tag sich vermählt.

Muss er auch wandern
und kämpfend ertrotzen,
behält er die
Stärke
zum frohen Gemüt.

Gib ihm vom Quell
beglückender Wonne,
dass ihn entzünde
Lebendiges Sein.

Nur in der Wesenheit
ewiger Jugend
erschliesst sich, ihn liebend,
versiegelt’ Geheimnis.

 

Daraufhin schreibt er es mit blauer Tinte fein säuberlich auf einen grossen weissen Bogen Papier ab und fügt in daumennagelgrosser Schrift eine Widmung hinzu mit folgendem Wortlaut: Dir, die mich verjüngte, in aller Liebe zugeeignet. Dein Molar.

 

Aber nicht steht es einem ewig im Leben zum Kämpfen genötigten Ritter an, seine Zeit zu „verliggen“ - wenigstens solange er von uns gefordert und gefördert wird -, zumal ihm zugleich die Rolle eines Troubadours im zwanzigsten christlichen Jahrhundert zukommt, dessen Wort vielerorts noch zu ertönen haben wird, gemäss der Vorsehung (und man verwechsele uns bitte nicht mit dieser), die ihm sein Schicksal, alles bedenkend und alles beraumend, vorgezeichnet hat. Und dieses „sein“ Schicksal wirft seiner Flügel Schatten auch auf das unsrige, solange wir mit dem Helden und seinem tragikomischen Epos in unserer „Vorstellung“ verbunden bleiben.