Unnütze Papierschnitzel

Am Aschermittwoch, dem ersten Tag der Buss- und Fastenzeit in katholischen Landen, kehren unsere zwei Möbelholer in ihre vertraute, vor der Idylle des Bodenseestädtchens versteckte Barackenwelt zurück. Sie werden schon auf dem zwischen Wald und Sportplatz entlangführenden Weg von Barackenkindern, unter denen sich auch Edelgard und die Heidrunsprossen befinden, begrüsst. Sie haben heute schulfrei und wissen daher den Frühlings-Busstag als besonders gnadenvolles Himmelsgeschenk zu schätzen. Während Edelgard und Wahrfried in die nun von der Arbeit ruhende Werkstatt gehen, wo sie Hermann antreffen und der zurückgekehrte Bruder nun alles der Reihe nach erzählen muss, verfügt sich Lilia in die Wohnstube, wo Wolf ihr erwartungsvoll entgegentritt.

 

Wolf: Ah, endlich! dassbist du ja wieder! Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass dir etwas zugestossen sein könnte.

 

Lilia: Mir als ehemaliger aktiven* Kommunistin dürfte doch eigentlich “drüben” nichts passieren können. Wie steht’s zu Haus? Ist alles in Ordnung?

 

Wolf: Es ist alles beim alten geblieben.

 

Lilia: Wo ist mein Mann?

 

Wolf: Er ist am letzten Wochenende nach München gefahren, um noch vor der grossen Reise nach Übersee seine Gedichte gedruckt zu bekommen.

 

Lilia: Was sagst du? Reise nach Übersee?

 

Wolf: Ja. Das verhält sich folgendermassen. Kürzlich war er in der Schweiz und lernte einen Margarinefabrikanten kennen, der einen Ölpalmexperten für seine Plantagen in Madagaskar suchte und nun in Hans Winfried den Gesuchten gefunden zu haben glaubt. Er will uns alle samt Heitmanns, Rosa, Loderers und der alten Katzenjungfer mitnehmen.

 

Lilia: Das klingt ja richtig märchenhaft! Das ist so unglaublich! ... Wir sollen alle heraus aus dieser Hölle ... ?

 

Wolf: ... um in eine andere zu geraten, wo die Moskitos dich Tag und Nacht lang piesacken.

 

Lilia: Aber bedenke, das wäre doch auch für dich eine ideale Lösung. Du bräuchtest dich nicht mehr zu verbergen und könntest wieder ohne ständige Furcht und versteckte Notklappe leben. (Mit letzterer ist jener unter dem Teppich im Kinderzimmer befindliche Notausgang gemeint.)

 

Wolf: Nun, zugegeben, es brächte gewiss einige Vorteile. Aber du glaubst doch nicht im Ernst, dass Hans Winfried eine Plantage leiten könnte. Den wird man doch sofort wegen Untauglichkeit wieder zurückschicken, wenn es überhaupt erst soweit kommt, dass wir dorthin gelangen.

 

Lilia: Bester Wolf! Natürlich weiss ich, dass mein Mann zwei linke Hände hat. Aber wir zwei sind doch Manns genug, den Laden (sie meint die Plantage) zu schmeissen (zu führen). Du kümmerst dich um die Arbeiter und weist sie an, und ich werde mich mit dem Haushalt, der Buchführung und der Löhnung befassen. Wir beide haben ja unser organisatorisches Talent schon öfter unter Beweis stellen müssen. Hans Winfried kann von mir aus in den Palmen sitzen und Gedichte schreiben.

 

Wolf: Nun ja, von dieser Seite habe ich dieses luftgespiegelte Unternehmen noch gar nicht betrachtet. Trotzdem, ich traue dem Ganzen nicht. Dein Mann ist für mich ein zu grosser Unsicherheitsfaktor. Er schwebt ja in den Lüften. Ein Poet mit Flügeln. Ein Hans-guck-in-die-Luft, der über jeden zweiten Stein stolpert und auf die Nase fällt.

 

Lilia: Aber sich sogleich wieder aufrichtet und seinen Weg unverdrossen weitermarschiert. Ich muss eben in seinem Leben mit ihm gehen und ihm die Steine aus dem Wege räumen.

 

Wolf: Und eines Tages schaust auch du in die Luft. Und dann fallt ihr beide auf die Nase.

 

Lilia: Nein. Wenn ich weiss, worum es geht, dann behalte ich meine Augen auf der Erde.


Und während die Rothaarige und ihr notklappensägender Schwiegersohn sich weiterhin unterhalten, wollen wir unser unsichtbares Ohr ein wenig ausdehnen, um von dem Gespräch der drei Geschwister untereinander ein wenig mithören zu können.

 

Edelgard: Hast du denn gar keine Angst gehabt, als du mit Mami nachts durch den Wald gehen musstest?

 

Wahrfried: Und ob! Konnte doch hinter jedem Baum ein Russe mit Gewehr stehen. Und als Mami beim Verhör war, dassstand ein solcher mit Gewehr direkt neben mir und musste aufpassen, dass ich nicht weglief.

 

Hermann: Du hast doch viel zuviel Schiss gehabt, wie ich dich kenne. Hast du dir auch ordentlich in die Hose gemacht?

 

Wahrfried: Nein, warum sollte ich? Ich wusste ja, dass mein Schutzengel mit mir war.

 

Edelgard: 0, das freut mich zu hören, denn ich habe jeden Abend gebetet, dass der liebe Gott dir einen besonders starken Schutzengel zur Seite stellen soll.

 

Hermann: Die mit ihren Engeln. Ihr spinnt doch! Es gibt doch gar keine Engel!

 

Wahrfried: Erinnerst du dich nicht, was Mutti am Sterbebett gesagt hat?

 

Hermann: Aber das hat sie doch nur gesagt, um uns zu trösten.

 

Wahrfried: Nein, das glaube ich ganz und gar nicht. Du kannst ja unseren blinden Onkel fragen.

 

Hermann: Der ist doch nur ein Schwarzseher. Es ist doch klar, dass er dann zu phantasieren anfangen muss.

 

Wahrfried: Tante Riemann, Muttis beste Freundin, hat auch bestätigt, dass Mutti jetzt ein Engel ist. Und Papi hat doch auch davon gesprochen. Erinnerst du dich nicht?

 

Hermann: Was die Erwachsenen so erzählen, das darf man nicht so genau nehmen. Sie lügen doch allesamt und tun immer so scheinheilig. Doch in Wirklichkeit sind sie alle Gauner.

 

Wahrfried: Das sagst du jetzt nur, weil du so böse auf alle Welt bist. Onkel Dörr, unsere Mutti, Papi und Opa sind bestimmt keine Lügner und Gauner. Opa hat uns sogar ein ganzes Album mit Briefmarken mitgegeben. Die soll Mami an uns Enkel verteilen.

 

Hermann: Dann kriege ich sowieso nichts. Sie ist ja so ungerecht und gibt alles meinem Bruder, ihrem Liebling. Den verhaut diese Hexe nie, während ich ständig Dresche kriege. Ich wünschte, dass Wahrfried auch mal verhauen würde.


Als Heidrun von der Rückkehr Lilias hört, schickt sie sich auch alsbald an, die Heimkehrerin nebenan aufzusuchen, deren Abreise aus Bäringen ihr schon in einem über eine Deckadresse zugestellten Brief des Vaters mitgeteilt worden war.

 

Lilia: Guten Tag, Heidrun! Ich soll dir Grüsse von deinem Vater bestellen. Ihm geht es - von aller Trauer einmal abgesehen - sehr gut, und er scheint weiterhin als Apotheker sehr zufrieden zu sein.

 

Heidrun: Ja, Vater war ja immer anspruchslos. Aber die kommunistische Verbrecherbande hat ihm ja seine Apotheke enteignet. Er wird ja nur noch aus Nützlichkeitserwägungen heraus geduldet. Wo sind denn die Möbel geblieben?

 

Lilia: Die müssen in den nächsten Tagen nachkommen. Eine Speditionsfirma wird sie, sobald die Papiere (Erlaubnisscheine) alle besorgt sind, hierher transportieren. Das hat tagelang gedauert, bis ich einen Spediteur fand, mit dem ich handelseinig werden konnte.

 

Heidrun: Ja, Vater schrieb, dass ein ganzer Lastwagen vollgestopft worden ist. Wie ist es dir denn gelungen, alles so reibungslos in die Wege zu leiten? Hast du denn nie Schwierigkeiten bekommen?

 

Lilia: Stell dir vor, was mir passiert ist! Ich werde mit Wahrfried in Langensalza verhaftet und dem sowjetischen Polizeikommissar zum Verhör vorgeführt, und - du wirst es nicht glauben - wen sehe ich vor mir? Unseren ehemaligen russischen Kriegsgefangenen Nikolai, der bei uns auf dem Gut nahezu zwei Jahre lang als Knecht zwangsverpflichtet war.

 

Wolf: Ist das vielleicht der Bursche, den Monika auf einem Photo mit sich herumgetragen hat? Wenn ich nur genauer Bescheid wüsste. Dieses Luder (noch harmloser Schimpfname) hat ja ihre Geheimnisse trotz Schläge immer geheimgehalten. Gezetert hat sie, als ich ihr das Photo zerriss, diese wilde Katze. Ist Helga denn überhaupt mein Kind? Vielleicht ist es das Kind jenes Iwans, dieses nun zum Kommissar avancierten Stallknechtes.

 

Heidrun: Was? Das ist ja unerhört! Was es an Zufällen nicht alles gibt!

 

Lilia: Sag ihr nur nichts mehr über deine KPD-Zugehörigkeit und die Thälmann-Bekanntschaft. Ja, wir hatten mit Nikolai damals schon ein freundschaftliches Verhältnis.

 

Wolf: Dacht’ ich es mir doch!

 

Lilia: Wir luden ihn öfter ein und haben von ihm so manches Interessante über die Sowjetunion erfahren.

 

Heidrun: Diese Staatsverräter! Sie haben mit dem Feind kollaboriert! Wahrscheinlich haben sie Spionage betrieben. Sie war ja selbst Kommunistin. Natürlich, jetzt wird mir alles klar. Und ihr habt bestimmt dann erst einmal Wiedersehen gefeiert?

 

Lilia: Genau! Er hat eine Flasche Krimsekt geöffnet, und wir haben angestossen. Daraufhin hat er mir je ein Schreiben auf deutsch und auf russisch mitgegeben, die so manches Wunder bewirkten. Zeige sie ihr auf keinen Fall.

 

Heidrun: Und der KP-Funktionär hat sie wohl gleich als neue Spionin engagiert. Jetzt wohne ich mit einem Spitzel unter einem Dach. Wie furchtbar! Man hätte sie damals miterschiessen müssen. Aber sie war ja mit einem General verheiratet. dasswurden ja leider wieder mal Ausnahmen gemacht. dasshast du ja grosses Schwein gehabt, wie man wohl sagt. Herzlichen Glückwunsch!

 

Wolf: Ja, darauf lasst uns anstossen! Ich werde eine Flasche vom Heurigen aufmachen.

 

Heidrun: Vater schrieb mir, dass er dir, liebe Lilia, ein Album mit Briefmarken mitgegeben hat, die wir den Kindern geben sollen. Wann wollen wir die Teilung vornehmen?

 

Lilia: Ich glaube, du bist falsch informiert. Er sagte, dass ich sie an seine Briefmarken sammelnden Enkelkinder verteilen soll. Wahrfried und Hermann sind die einzigen seiner Enkelkinder, die sich für Marken interessieren. Deine Töchter haben ebenso wie Edelgard kein Interesse dafür. Und Eckard ist noch viel zu jung.

 

Heidrun: Aber das finde ich doch empörend! Mein Sohn hat von mir zu Weihnachten schon die ersten Marken erhalten. Er wird auch weiterhin sammeln, und ich finde es recht und billig, dass die Sammlung gerecht verteilt wird.

 

Lilia: Dein Sohn ist gerade erst fünf geworden. Er kann unmöglich schon ein Wertgefühl für Briefmarken haben. Er würde sie nur zerreissen. Er ist noch kein Sammler. Ich bin von deinem Vater beauftragt worden, sie  n u r den Sammlern unter seinen Enkelkindern zu geben. Und damit können allein Wahrfried und Hermann gemeint sein.

 

Heidrun: Du bist gemein! Das werde ich Vater schreiben! Dann wird er dir schriftlich darlegen, wie er sich die Aufteilung gedacht hat. Ich gehe jetzt!

 

Lilia: Montag morgen beginnt die Arbeit wieder pünktlich um acht Uhr. Damit du es weisst!

 

Wolf: Diese gackernden Weiber! Wegen “ollen” (er meint “alten” im Sinne von unnützen) Papierschnitzeln hacken sie sich die Augen aus.


Ich weiss nicht, ob es an dieser Stelle gestattet ist, unser Augenmerk wieder ein wenig in die irdische Vergangenheit zu lenken.

 

Soweit wir freien Willen haben, lasst uns nur immer davon Gebrauch machen. Aus deinen Gedanken erlese ich schon, was du gerne wissen willst. Ja, warum nicht? Vertauschen wir das Zeitenspiel. Es kommt uns sehr zustatten. Thema: Rot-Lilia der Lieb’ verfiel, um sich guts-herrlich zu be-gatten.