In eben derselben Nacht begegnen wir unserem Vordichter in seinen Träumen. Wir wollen uns aber, lieber Leser, ein wenig abseits halten, damit wir nicht als Störenfriede oder Friedensbringer im Wege stehen.
Molar geht in verjüngter Gestalt armumschlungen mit Hilde der aufgehenden Sonne entgegen. Ihre langen Gewänder sind aus Seide und schimmern in den vielfältigsten Farben. Sie bleiben unter einem Baume stehen, und der frohsam Beschwingte pflückt einen der saftigen grünen Äpfel und reicht ihn seiner sich an ihn schmiegenden Gefährtin. Und während beide wechselweise in ihn beissen, bemerken sie mit Schrecken, dass der sich schon halb aus der am Horizont winkenden Landschaft hervorhebende, glutrote Sonnenball plötzlich wieder zu sinken beginnt. Und in dem Dämmerschein, der die Wolken in Blutrot erstrahlen lässt, erblicken beide einen Schatten, der sich ihnen mit grosser Geschwindigkeit naht. Und Molar erkennt zu seinem Entsetzen, dass es der Schatten Lilias ist, ja, jetzt schaut er sie selbst, er sieht, wie sie grimmig blickt, die linke Unterlippe, wie sie es zu tun pflegt, zwischen den Zähnen kurz einziehend, so dass das Gold derselben einen Moment hervorblinkt. Sie trägt einen grossen schwarzen Koffer. Jetzt öffnet sie ihn, und schon entsteigen seinem Innern Dutzende von langen, grünen und durchsichtigen Geistern, die, immer grösser und länger werdend, auf die beiden, die erschrocken den Apfel fallen lassen, zukommen, sie bei den Armen und Beinen packen, ihre wunderbaren Kleider zerreissen und sie ganz nackend an zwei nebeneinanderstehende Bäume binden. Die im Traum Gebundenen zittern vor Angst. Lilia holt aus dem Koffer eine rote Peitsche hervor und schlägt mit aller Härte auf die Gefesselten. Der Gepeinigte hört Hildes Schreie und schliesslich, von einem wuchtigen Schlag getroffen, ruft er laut: „Hilfe!“
Er öffnet die Augen. Wo bin ich?
Es ist dunkel. Er hört schwappendes Wassergeräusch und fühlt seinen augenblicklichen Raum hin- und hergehoben. Und sofort fällt ihm ein, dass er sich ja auf dem ihm vertrauten Bodenseeschiff „Mainau“ befindet, welches ihm auf seiner letzten Hinfahrt so reichlichen Erfolg beschert hatte. Ja, morgen muss ich auf diesem meinem Glücksschiff nochmals viele Bastschuhe verkaufen. Ich darf nicht ohne Geld nach Meersburg kommen. Von den fünf Mark des Herrn Rüdiger habe ich gerade noch genug übrig, um mir die Schiffskarte zu kaufen. Wie gut, dass ich mich mit meinem Sack, nachdem ich noch in einem Hotel zu Abend speiste,
heimlich auf das Schiff begeben konnte, ohne von irgend jemandem bemerkt zu werden. Hier auf der Bank im Buffetraum ist es zwar sehr hart und mich friert trotz der zwei leeren, auf mir liegenden Säcke, aber ich kann doch wenigstens schlafen. Ja, morgen muss ich noch auf dem Schiff zwei- bis dreihundert Mark verdienen, sonst kann Lilia den Damen überhaupt kein Geld auszahlen. Ach ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Was für ein grässlicher Traum war das. Wie gut, dass das Geträumte nur Traum und nicht Wirklichkeit ist.
Und schon schliessen sich seine Augen wieder, und er begibt sich hinein in neue Traumfolgen, jene nächtlichen Spaziergänge der zigtausendfach geprüften Seele.
Wie gut, dass er noch nicht weiss, dass das, was er die Wirklichkeit nennt, nur ein Traum ist. Oder wäre es besser, wenn er die Wahrheit wüsste, damit es ihm in seinem Erdenleben Trost bereitete, dass es einmal ein Erwachen in der ihn von allen Qualen befreienden, in einer höheren Dimension liegenden, eigentlichen Wirklichkeit geben wird?
Warum müssen viele Träume schreckerregend sein?
Es scheint mir noch nicht die Zeit gekommen zu sein, der Beantwortung deiner Frage hier Platz einräumen zu dürfen. Begnüge dich vorerst mit dem Hinweis, dass es für die Seele auf ihrem Weg zur eigenen Vervollkommnung notwendig ist, auch im Traum Leid zu erfahren. Für sie ist das Geträumte samt all den darin sich repräsentierenden Vorstellungen ebenso wahr wie die Wahrnehmungen ihres Erwachtseins nach durchträumter Nacht im irdischen Tag. Denn das, was die Menschen als Traum bezeichnen, ist nur der Traum im Traum, und selbst letzterer, so wollen wir hinzufügen, ist ja nur ein kleiner Traum, der eingebettet ist in den grossen Traum, in welchem die noch in ihrer Vorstellung dem Irdischen anhaftende Seele oft im Geistergewande einherwandelt, bevor sie sich in den ihr zugeteilten zeitweiligen corpus humanum zurückbegibt.
Aber wandert die Seele nicht in den Vorstellungen ihres eigenen Unterbewusstseins?
Das könnte man so sagen. Aber es gibt geistige Führungskräfte, die jene Seelen auf ihren Spaziergängen leiten und sie auch in neue Vorstellungswelten hineinversetzen, womit diese ihnen übereignet werden.
Können wir auch als Führungskräfte dienen?
Mich verwundert deine Frage. Was, glaubst du, ist der Autor anderes als eine geleitete Führungskraft seiner ihm anvertrauten Seelen, die schon waren, bevor er selbst als Schöpfender im Raume lebte und sich „endlich“ anschicken konnte, jene zu „verbuchen“?
Dann bist du also der Führungsgeist Molars?
Nicht nur der seine. Ich bin auch derjenige aller hier in diesem Buche zu Notierenden, denn sie alle sind meiner beziehungsweise unserer Vorstellung anheimgegeben.
Du trägst also eine grosse Verantwortung?
So ist es. Wir sind zuerst uns immer selbst verantwortlich, denn was wir anderen tun, geschieht in Wirklichkeit uns selbst, dass sie ja in unseren Vorstellungen existieren, und diese sind vornehmlich wir selbst.
Ich muss alles von dir Gesagte selbst noch überdenken, um es meiner Vorstellung einverleiben zu können.
Ich möchte dich, lieber Begleiter und Mitautor, nicht überfordern. Warum lassen wir den Apfelpflücker und von Geistern Gebundenen und Ausgepeitschten mittels seiner und unserer Vorstellungskraft nicht einen Besuch bei uns unternehmen?
Aber ist dies denn möglich?
Der Vorstellung ist alles das möglich, was sie sich selbst vorzustellen vermag, denn sie ist aus Geist geschaffen, lebt und webt im Geist und kennt keine Zeit und keine Grenzen als die, die sie sich selbst setzt. Und dass es unserer Rolle zukommt, selbst Geist zu sein, wir aber im Ureigentlichen alle Geist sind, so leben auch wir in der Vorstellung als Vorstellung, dass diese beiden nur das Geformte von jenem sind, das dem Urquell alles Seins entspringt, den wir mit dem Namen Gott bezeichnen. Unser eigentliches Wesen ist aus Gott erschaffener, ewig lebendiger Geist, aber wir erleben uns nur aus der Vorstellung heraus.
Wir rufen also: Molar! Herbei!
Molar: Wer ist es, der mich ruft?
Autor: Zwei dich umsorgende Begleiter.
Molar: Was ist es, das ihr begehrt?
Autor: Wir wollen dich nur in unsere Vorstellung hineinführen, denn du sollst auch ein Recht darauf haben zu wissen, dass wir im Begriff sind, dein Heldenjahr zu beschreiben.
Molar: Wieso Heldenjahr?
Autor: Es ist der Höhepunkt und zugleich Wendepunkt deines augenblicklichen Lebens. Es ist das sechsmal siebente Jahr, und zweimal sieben Jahre sollen dir noch beschieden sein, Kommst du aber in späteren Zeiten wieder auf die Erde zurück, so sollst du neunmal sieben Jahre leben dürfen, und dein Schaffen wird im goldenen Lichte erstrahlen, und dein Name und Wirken sollen in die ewig unauslöschbaren Annalen der grössten Dichterleben eingetragen werden. Wir beide sind diejenigen, die dich in deinem jetzigen vor-dichterischen Leben aufmerksam beobachten, ja, dich sogar hin und wieder ein wenig beeinflussen dürfen. In diesem wirst du, schon ahnungsvoll, vorbereitet auf eine grosse Zukunft in der Vorstellung der zukünftigen Welt. Denn was du nun zu sein dir wünschest auf Erden, das soll dir auch einstmals als Dichter werden nach deinen schon durchmessenen Weiten in lang durchschrittenen Zeiten. Dichter wird man nicht von ungefähr. Dichter wird nicht irgendwer. Dichter sein heisst, prüfungsschwer durch das weite Weltenmeer sich von vielen Leben her durchgekämpft zu haben, nimmer, trotz der grössten Not, lichte Hoffnung aufzugeben, auf das hohe, hehre Ziel, den Geist der Liebe, zuzustreben.
Molar: Soll das etwa heissen, dass mein Leben nur eine Vorbereitung auf ein zukünftiges Leben als Dichter ist?
Autor: So ist es.
Molar: Dann möchte ich dieses Leben sofort abbrechen und mein zukünftiges antreten.
Autor: Lieber Unsterblicher, dein jetziges Leben ist genauso wichtig wie dein zukünftiges, denn ohne die Erfüllung deiner Aufgaben im jetzigen wird auch dein künftiges nur unvollkommen sein können.
Molar: So ist mein innerer Glaube, ein grosser und berühmter Dichter zu werden, im eigentlichen Sinne richtig, auch wenn sich seine Erfüllung ein wenig in der Zeit verschieben sollte?
Autor: Ja, so ist es. Der Glaube an deine grosse Mission keimt in dir, und kein Unwetter kann diesem Sprössling Schaden zufügen. Alle Erfahrungen, die du jetzt sammelst, werden dir in deinem zukünftigen Leben in verkleideter Gestalt zugeführt werden, und du kannst dann in dieser Rumpelkammer deiner Seele auswählen, welche darunter du in deinen zukünftigen Dichtungen als jeweiliges Requisit gebrauchen willst.
Molar: Ich möchte nicht mehr auf die Erde zurück, wenn ich mit dem Bewusstsein belastet sein soll, in diesem Leben kein grosser Dichter mehr werden zu dürfen.
Autor: Beunruhige dich bitte nicht, denn eben dieses Bewusstsein, bloss Vordichter zu sein, werden wir dir wieder nehmen, und zwar in dem Augenblick, in welchem du eine Stimme hörst, die dich dreimal mit den Worten anruft: „Die Fahrkarte bitte!“