Molar steht in der Strassenbahn der Linie 8. Diesmal fährt er in die richtige Richtung. In den letzten Tagen hatte er bei einigen Verlegern vorstellig werden wollen, war aber meistens schon im Vorzimmer bei der Sekretärin gescheitert. In seiner Manteltasche befindet sich ein zusammengefalteter Zettel mit der Liste aller sich mit Belletristik befassenden Münchner Verlage. Es wird mir schon schwer gemacht, für meine Dichtung zu leben. Aber ich werde nicht resignieren. Zwölf Verleger habe ich schon aufgesucht. Was sind ihre Antworten? „Wir drucken keine Lyrik mehr“, „Wir sind für die nächsten drei Jahre schon vordisponiert“, „Kommen Sie in zwei bis drei Jahren wieder“, „Vielleicht versuchen Sie es mal bei dem oder jenem“ und so weiter. Wenn ich kleinmütig wäre und verzagt, dann hätte ich schon längst den Versuch, meine Gedichte bei einem Verlag unterzubringen, aufgegeben. Gott sei Dank habe ich erst mal einen Drucker für meinen gefalteten Bogen mit den vier Gedichten finden können. In drei bis vier Wochen werden mir zweitausend dieser meiner „Festlichen Gaben“ nach Meersburg zugeschickt werden. Dreihundert Mark musste ich dem Drucker Berghofer auf der Stelle bezahlen. Aber ich habe ja noch achthundert Mark und fast neunzig Paar Schuhe. Diese werde ich in den nächsten Tagen auch noch abzusetzen versuchen.
„Lindwurmstrasse!“, so ruft der Schaffner laut.
Molar: Jetzt muss ich aussteigen. Ich vertraue auf mein Glück.
Wenige Minuten später betritt unser Vordichter das Sekretariatszimmer des Verlegers Pfaff. Die zwanzigjährige Sekretärin schaut auf den soeben durch die Türe eingetretenen Mann, der seinen Hut zum Gruss hebt und sagt: „Guten Morgen! Mein Name ist Doktor Bröckelberger-Molar. Kann ich mit dem Verlagsleiter persönlich sprechen?“ Das ist ja ein ganz wunderschönes Mädchen. Blonde, lange Haare. Ihre Augen! Ihr Mund! Einfach grossartig.
Sekretärin: Um was handelt es sich, wenn ich fragen darf? Hoffentlich hat er nicht ebenfalls in seiner Aktentasche Gedichte, die er veröffentlicht haben will. Jeden Tag kommen zwei bis drei Nachkriegslyriker an und wollen den „Herrn Verlagsleiter“ sprechen. Herr Pfaff hat mir ausdrücklich aufgetragen, schon hier im Vorzimmer alle Dichter abzuweisen. Er sagte sogar, sie seien ihm wie aufdringliche Läuse, man dürfe sie erst gar nicht an sich herankommen lassen, sonst kriege man sie gar nicht wieder los.
Molar: Ich bin ein dichtender Schriftsteller.
Sekretärin: Hab’ ich mir doch gleich gedacht. Er hat einen Doktortitel und dichtet dann immer noch? Ein komischer, wenn auch interessant erscheinender Mensch. Warum kann er mit seiner Ausbildung nicht einem vernünftigen Beruf nachgehen? Ich muss Sie leider enttäuschen, Herr Doktor. Unser Verlag druckt zur Zeit keine Lyrik mehr. Sie müssen es bei einem anderen versuchen.
Molar: Nur nicht nachgeben. Ich muss hier einen Sieg erringen. Ich darf mich nicht mehr so einfach abfertigen lassen. Darf ich Sie um Ihren werten Namen bitten?
Sekretärin: Brünn. Weshalb fragt er nach meinem Namen? Will er mir ebenfalls wie so manch anderer der Hiergewesenen ein Gedicht widmen? Er sieht eigentlich ganz faszinierend aus. Ja, eine Persönlichkeit, zweifellos!
Molar: Liebes Fräulein Brünn! Ich bin kein passiver Dichter wie so viele andere, die in ihrem Dachkämmerlein vor sich hin dichten. Ich bin ein aktiver Poet, der mit beiden Beinen im Leben steht und diese auch zu nutzen bereit ist, indem er es unternimmt, seine Gedichte selbst an die Menschen heranzutragen. Ich sehe meine Mission darin, in den Menschen mittels der Lyrik wieder Hoffnung auf ein würdigeres Dasein zu wecken.
Fräulein Brünn: Aha, ein dichtender Missionar also. Das ist ja etwas ganz Neues!
Molar: Hören Sie sich doch dieses Gedicht an, und urteilen Sie selbst.
Molar sucht aus seiner Aktentasche das Gedicht „Zuspruch“ hervor und trägt es mit weihevoller Stimme vor.
Fräulein Brünn: Es ist sehr schön. Es gefällt mir sehr gut. Aber wen will er damit begeistern? Solche wie mich allenfalls. Die meisten Menschen sind doch für Gedichte, besonders für ernste Gedichte, verschlossen. Dieses Gedicht würde ich mir gerne abschreiben, wenn Sie es erlauben.
Molar: Sie dürfen es behalten. Ich habe noch Abschriften davon in meiner Tasche. Ich bin überzeugt, dass der Herr Verlagsleiter ebenfalls wie Sie von meinen Versen angesprochen sein muss.
Fräulein Brünn: dassbin ich doch sehr skeptisch, werter Herr Doktor. Herr Pfaff hat mich ausdrücklich wiederholt darauf aufmerksam gemacht, dass ich jeden, der ihn um das Verlegen eigener Gedichte ersuchen möchte, abzuweisen habe.
Molar: Liebes Fräulein Brünn! Das heisst also, dass er schon seit längerer Zeit keinen Dichter mehr empfangen hat? Nun, dann wird es höchste Zeit für ihn, eine Ausnahme zu machen. Ich möchte mit Ihnen wetten, dass ich mit ihm ein Einvernehmen über die Drucklegung meiner Gedichte finden kann, wenn ich nur die Gelegenheit erhalte, mit ihm zu sprechen.
Fräulein Brünn: Lieber Herr Doktor! Diese Wette würden Sie glatt verlieren. Glauben Sie mir.
Molar: Wenn ich verliere, dann erlaube ich mir, Sie als Gewinnerin heute noch zu einer Flasche Sekt einzuladen.
Fräulein Brünn: Gut, abgemacht! Ich werde Sie dem Herrn Pfaff melden. Warten Sie einen Augenblick. Warum gebe ich bloss nach? Ich handle doch jetzt wider Anweisung. (Wir wollen hier verbessern: wider „irdische“ Anweisung.)
Unser rüstiger Held hat wenig später dem sich vergebens dagegen wehrenden Verlagsinhaber zwei seiner Gedichte vorgetragen.
Verleger Pfaff: Nun, zugegebenermassen klingen Ihre Gedichte ja ganz gut und scheinen auch wirkungsvoll zu sein. Aber, werter Herr Doktor Bröckelberger, Gedichte liest doch nach dem Kriege kein Mensch mehr. Jeder ist viel zu sehr mit sich und dem von ihm Erlebten beschäftigt. Alle haben direkt oder indirekt leiden müssen. Jeder könnte selbst mehrere Gedichtbände darauf verfassen. Die jetzigen Nachkriegsdeutschen sind ausgesprochen alyrisch eingestellt.
Molar: Nein, das glaube ich gar nicht. Ich weiss, dass es meine Sendung ist, dem Menschen wieder Hoffnung zu geben, und zwar durch Lyrik. Er muss sich wieder aufraffen und nach Höherem Ausschau halten. Er muss sein Leid vergessen und ein neues Ahnen bekommen, dass Gott ihn liebt und ihn mit Frohem beschenken möchte, wenn er ihm sich nur zuwenden wollte, und zwar nicht als ein sich mit Ellbogen durchkämpfender Herdenmensch, sondern als ein Gott mit aller Demut seines Herzens Suchender.
Pfaff: Begreifen Sie doch, Herr Doktor! Lyrik zu verlegen, und auch noch von einem unbekannten Dichter, ist für jeden Verleger eine Falle. Und wer einmal oder sogar einige Male dort hineingeraten ist, der sollte aus seinen Fehlern gelernt haben. Sehen Sie, wenn ich eine Auflage von tausend Exemplaren Ihres Gedichtbandes veröffentlichen würde, so beliefen sich allein schon die Herstellungskosten auf dreitausend Mark, und Drucker und Buchbinder wollen sogleich bezahlt sein. Ich selbst habe kein Geld, um es zum Fenster hinauszuwerfen. Denn selbst wenn Ihre Gedichtbände gedruckt würden, dann dauerte es doch erst einmal Jahre, bis sie, wenn überhaupt, verkauft sein würden.
Molar: Nun, Ihre Argumente in Ehren. Erstens beabsichtige ich, Ihnen achthundert Exemplare selbst abzukaufen und diese direkt an den an Lyrik Interessierten zu veräussern, womit Ihre Absatzsorgen schon einmal beseitigt sind, zum anderen kann ich Ihnen sofort achthundert Mark auf den Tisch legen, womit heutzutage jeder Drucker als Anzahlung zufrieden sein dürfte. Also ist auch dieses Problem gelöst. Ausserdem ist es Ihnen klar, dass man dem heimgesuchten Menschen von heute wieder Mut zu einem neuen Beginnen geben muss, und zwar mit den Mitteln, die einem zur Verfügung stehen. Und Sie werden wohl nicht abstreiten, dass Ihr Mittel die geschriebenen Worte sind und dass Sie überdies froh sein müssen, wenn ein Dichter Ihnen diese sogar noch ins Haus bringt, ohne dass Sie sich erst auf die Suche danach begeben müssen. Was kann es Wunderbareres in diesem Leben geben, als anderen Menschen helfen zu dürfen. Wann werden Sie also, verehrter Herr Pfaff, mit einer Druckerei verhandeln?
Als unser Siegreicher nach längeren Verhandlungen aus dem Sprechzimmer des Verlegers heraustritt, gibt er Fräulein Brünn mit einem zufriedenen Lächeln zu verstehen, dass seine Gedichte bald gedruckt werden.
Molar: Nun, was habe ich Ihnen gesagt?
Die Angesprochene muss jetzt ebenfalls lächeln und sagt: Herzlichen Glückwunsch, Herr Doktor! Sie haben die Wette gewonnen, und ich brauche Sie heute abend nicht als Trösterin zu belästigen. Schade eigentlich.
Molar: Liebes Fräulein Brünn! Es war vielleicht unfair, Ihnen eine solche Wette überhaupt anzubieten. Denn als ich Sie sah, wusste ich schon, dass ich sie gewinnen werde, weil Sie auf mich eine derartig grosse Siegeszuversicht übertrugen, dass ich einfach nicht verlieren konnte. Natürlich werde ich heute festlich essen gehen und den Erfolg feiern. dass ich aber aus Erfahrung weiss, dass allein gefeierte Feste nur halbe Feste sind - er weiss ja nicht, dass unsere Augen mitspeisen werden -, möchte ich Sie bitten, mir das Fest zu einem vollen zu machen, indem Sie meiner Einladung nachkommen und mit mir zusammen heute abend beim Galadiner eine Flasche Sekt trinken.
Fräulein Brünn: Es ist zwar selten, dass der Verlierer einer Wette dann doch noch gewinnt, aber so es vorkommt, sollte man nicht verzichten wollen. Ja, ich sage zu. Er ist doch ein ganz charmanter Mann. Bestimmt nicht langweilig. Gewiss ein Feuerzeichen.
Und unser Feuriger verabredet Zeit und Treffpunkt für den nämlichen Abend.
Und als er sich wieder auf der Lindwurmstrasse befindet, fällt ihm ein: Ich hab’ ja gar kein Geld mehr! Womit soll ich heute abend das Essen bezahlen? Aber ich habe ja noch Bastschuhe. Ulm! Ulm! Gut, dann werde ich sogleich noch eine Nachmittagshin- und -rückreise nach Ulm antreten. Hoffentlich bin ich ebenso erfolgreich wie zuvor.
Ja, das Glück soll mit ihm
sein.