Sei meinem Schicksal gnädig

Wir sind nun beim letzten Tag des ersten Monats angelangt und haben bisher, so hoffe ich, alle Personen von unmittelbarer Wichtigkeit dir, lieber Leser, nahegebracht oder dich auch ihnen in veränderter Gestalt angenähert. Ich hoffe überdies, dass du dem bisher dir Vorgestellten folgen konntest in unserem romanhaften Drama von Höhen- und Tiefenflügen oder gar Abstürzen der Menschen. Nun, in deiner ersten Verwandlung haben wir dich älter scheinen lassen, als du wirklich in deiner ewigen Jugend bist. Aber lass dich nicht von dem Schein täuschen. Vergiss also nicht, dass du unsterblich bist und dass deine ganze Du seiende Seele ewig jung ist. Wir wollen uns aber nicht vermessen, das „letzte Wort“ bei diesem Kapitel haben zu wollen, denn gab es jemals ein Werk von höherer Art, bei dem der vermittelnde Künstler und Pseudoschöpfer das „letzte Wort“ hatte?

 

Molar erinnert sich am 31. Januar daran, dass Lilia versprochen hatte, ihm nach München zu schreiben. So steht er jetzt neben dem Schalter des Postamtes im Hauptbahnhof und liest den seit zwei Tagen auf ihn „postlagernd“ wartenden Brief.

 

Mein lieber Wini!

 

Ich habe so grosse Sehnsucht nach Dir. Ich brauche Dich, mein Lieber. Komme recht bald zurück. Ich hoffe, dass Dein Verkaufsgenie Dir wieder beistand und Du schon einen Teil der Schuhe absetzen konntest. Es wird am 31. Januar bei meinen angestellten Damen natürlich Ärger geben, wenn ich ihnen offenbaren muss, dass sie noch bis zu Deiner Rückkehr auf den Monatslohn zu warten haben. Muss es Dich, mein Geliebter, nicht verlocken, nach Deiner Bodenseebehausung zurückzukommen, wo so viele Frauen mit Ungeduld und Verlangen - wenn auch unterschiedlicher Art - auf Dich warten? Übrigens erhielt Heidrun einen Brief von Vater, der seine Befürchtung aussprach, dass Deine liebe Mutter wahrscheinlich nur noch wenige Tage zu leben habe. Er sagte, dass es gut wäre, wenn wenigstens eines ihrer Kinder noch kommen würde, um Abschied von ihr zu nehmen. Dein Vater erwähnte auch, dass Deine und Heidruns Möbel, weil sie nur herumständen, von den Russen in Beschlag genommen werden könnten und es demzufolge besser sei, wenn wir versuchten, sie noch heimlich über die Grenze zu bringen. Ich habe mich dazu entschlossen, so keiner von euch beiden sich aus erklärlichen Gründen hierzu bereitfinden sollte, eurer Mutter als pflichtbewusste Schwiegertochter stelltvertretenderweise Lebewohl zu sagen und bei dieser Gelegenheit natürlich zu versuchen, einige der Möbel zu retten.

 

Hermann hat zur Zeit Fieber. Als wir ihm das Thermometer unter die Achsel steckten, musste er es gleich zerbrechen. Er macht aber auch alles verkehrt. Es ist schon schwierig, mit ihm fertig zu werden.

 

Lieber Hans Winfried, komme bald zu Deinem Dich liebenden Lilaleinchen und zu den auf ihren Lohn wartenden Frauen zurück. Ich liebe Dich und küsse Dich

 

Deine Frau

 

und pflichterfüllende Mutter Deiner vier Kinder

 

Molar faltet nun diesen Brief zusammen. Er seufzt: Ja, sie liebt mich. Aber ich liebe sie nicht. Mein Herz sehnt sich nach einem Herzen, von dem ich schon spüre, dass es für mich pocht. Ich fühle mich diesem Herzen schon ganz nah. Wenn ich es doch nur bald finden würde. Ich benötige die reine Liebe, um in dieser Welt der Hetze, des Hasses, der Selbstsucht und der Lieblosigkeit nicht nur zu bestehen, sondern auch meiner inneren Sendung, Liebe, Hoffnung, Trost und Zutrauen zu geben, nachkommen zu können. Wie soll ich als eine Art Friedensvogel mich in die Lüfte schwingen können, wenn Steine an meine Füsse gebunden sind? Ach, nähme das Schicksal sich doch meiner an und gäbe mir Gelegenheit, meine Dichterflügel ganz auszuspannen, um, in der Höhe kreisend und Frieden verheissend, die mit der rasselnden Welt verstrickten Menschen nach oben schauen zu lassen. Ich fühle mich wie ein in Ketten geschlossener Gefangener, der in einem dunklen und stinkenden Verlies sitzt, in dem die Ratten ständig sich und mich zu beissen versuchen, und ich sehne mich nach dem warmen Licht des ewigen Tages, von dessen Vorhandensein ich weiss, dassmeine innere Stimme mir dieses verheisst. Aber alle Vorstellungen, vorerst aus diesem Kerker befreit zu werden, sind hinfällig, und doch wächst der Glaube an die Befreiung mit jedem Tag. Ob ich in diesem Erdenkerker auch einen Verleger für meine lyrischen Lichtgedanken finden werde? In wessen Hand ich mich auch befinde, sei meinem Schicksal gnädig!