Schere dich zum Teufel

Molar tritt soeben in die überwölbte Vorhalle des Münchner Hauptbahnhofes ein. Unter dem Arm trägt er die ihn überallhin begleitende Aktenmappe. Das war wieder eine wunderschöne Nacht mit Hilde. Sie war gestern so erfreut über den roten Mantel, den ich ihr mitbrachte. Sie ist ein wunderbares Mädchen. Aber es fehlt mir ein inneres Band zu ihr. Sie kann mich in meinem Wesen gar nicht verstehen. Für sie bin ich nur  e i n  origineller Mann, der bei einer anderen Gelegenheit ohne weiteres austauschbar wäre. Morgen abend sehen wir uns wieder. Ich freue mich schon darauf. Ich muss heute unbedingt einige Schuhe verkaufen. Aber ich habe überhaupt keine Lust. Wenn ich jetzt meine gedruckten Gedichte schon in den Händen hätte, ja, die würde ich sogleich mit grösstem Elan abzusetzen versuchen. Nun, ich will einmal sehen, wann ein Zug nach Stuttgart fährt. Ich könnte auch bei dieser Gelegenheit nochmals am Postschalter nach Post fragen, obwohl ich kaum etwas erwarten dürfte.

 

Somit betritt er das Bahnpostamt und nennt seinen Namen am Schalter für postlagernde Sendungen. Der Beamte händigt ihm gegen Vorlage seines Personalausweises ein schon seit drei Tagen auf ihn wartendes Telegramm aus, und Molar liest:

 

KOMME SOFORT NACH HAUSE - MUTTER GESTORBEN - LILIA.

 

Ach Gott, das ist ja furchtbar. Meine liebe Mutter ist tot. Ich habe zwar im Gegensatz zu Heidrun nie ein inneres Verhältnis zu ihr finden können. Sie ist mir immer fremd gewesen. Auch ihre und Heidruns Hitlerbegeisterung konnte ich nicht teilen. Ihr Fanatismus setzte sich über die Liebe hinweg. Ja, meine liebe Mutter. Gut, wenn auch streng, war sie immer gewesen. Doch wusste sie mit mir nichts anzufangen. Als ich ihr als junger Gymnasiast einmal gestand, ich wolle Dichter werden, hat sie mich geohrfeigt und gesagt: „Du dummer Junge, warum schicken wir dich wohl auf ein teures Gymnasium? Damit du später etwa ein Hungerleider wirst? Nein, mein Sohn, du wirst Apotheker wie dein Vater. Wozu haben wir zwei gutgehende Apotheken? Diese Faxen schlage dir aus dem Kopf.“ Mein armer Vater, er wird unter ihrem Dahinscheiden sehr leiden. Ihm habe ich mich immer sehr verbunden gefühlt, auch wenn er für die Musen wenig Sinn zeigte und sich desto eifriger seiner Mottensammlung widmete. Schade, dass ich nicht mehr dazu kam, vor ihrem Tode noch zu schreiben. Wirklich schade. Ich muss meinem Vater sofort ein Kondolenztelegramm schicken. Aber zur Beerdigung werde ich nicht fahren, das wäre zu gefährlich und umständlich, und ausserdem ist es dafür schon zu spät. Lilia will ja hinüber. Sie wird bestimmt mit Ungeduld auf mich warten, denn sie schickte das Telegramm schon vor einigen Tagen ab. Vielleicht will sie sofort in die russische Zone reisen und wartet dringend auf meine Rückkehr nach Meersburg. Ja, ich muss heute noch zurückfahren.

 

Molar füllt in Eile ein Telegrammformular aus, und als er bezahlen will, findet er keinen Geldschein mehr in der Tasche: Wie? Was? Nur noch fünfundzwanzig Pfennige? Das reicht ja nicht einmal für eine Tasse Kaffee. Wo ist denn nur mein ganzes Geld geblieben? Ich war doch bei meiner Ankunft noch ein reicher Mann. Ach ja, der Verleger, der Drucker, Hilde, Torsten. Ja, Torsten. Ich muss sogleich zu seiner Wohnung und mein Geld zurückverlangen. Hoffentlich hat er noch nicht alles der Wirtin gegeben. Von den verbliebenen Pfennigen vermag ich gerade noch die Strassenbahnkarte nach Schwabing zu bezahlen.

 

Er klingelt an der Tür von Frau Ainzinger. Diese öffnet ihm.

 

Molar: Schönen guten Morgen, gnädige Frau! Ist mein Freund, Herr von Luckwald, zu Hause?

 

Frau Ainzinger: dasshaben Sie aber einen schönen Freund! Gleich in der Nacht noch, nachdem Sie weggegangen sind, hat er sich heimlich auf- und davongemacht. Nur seine Schreibtischlampe hat er zurückgelassen. Ich hab’ ihm ja nie getraut, diesem „schönen“ Herren „Von und Zu“. Ein Spitzbube, ein Gauner ist er. Der wird jetzt überall von der Polizei gesucht. Der schuldet mir noch sechs volle Monatsmieten.

 

Molar: Aber ich denke, er hat Ihnen gestern Geld gegeben?

 

Frau Ainzinger: Woher denn? Der hat doch keinen Pfennig gehabt. Gestern spät ist er noch zu mir in die Stube gekommen und hat mir versichert, dass seine „Aussicht“, wie er sich ausdrückte, jetzt besser geworden sei, aber er müsse immer noch auf irgendeine Rückzahlung warten. Diese Geschichte erzählt er mir schon seit vielen Wochen. Ein Schwindler ist er, wie er im Buche steht. Der gehört ins Gefängnis. Vielleicht sitzt er schon dort, und wenn Sie ihn besuchen sollten, Ihren „werten“ Herrn Freund, sagen Sie ihm, was ich von ihm denk’. Wenn ich den zu fassen krieg, kratz’ ich ihm die Augen aus. Darauf kann er sich verlassen.

 

Und mit diesen Worten schliesst sie die Türe.

 

Kann es wahr sein, dass Torsten mit meinen dreihundert Mark durchgebrannt sein sollte? Das glaube ich nicht. Bestimmt wird er sie mir bald nach Meersburg überweisen. Er muss sich augenblicklich in einer Notlage befinden. Das kann ich verstehen. Was mache ich jetzt ohne Geld in den Taschen? Gottseidank habe ich noch über fünfzig Paar Schuhe in meinem Hotelzimmer. Doch wie soll ich jetzt die Hotelrechnung bezahlen? Das ist ja zu dumm! Der Hotelier wird die Polizei alarmieren, und dann treffe ich Torsten wahrscheinlich in einer Zelle wieder. Nein, nur nicht ins Gefängnis! Das wäre das Schlimmste, was mir je passieren könnte!

 

Und unser chevalier d’infortune muss den ganzen Weg zu seinem Hotel am Bahnhof zu Fuss zurücklegen.

 

Als Molar in seinem Hotelzimmer angelangt ist, packt er zweiundvierzig Paar Bastschuhe samt einer leeren Tasche und den beiden zusammengefalteten Säcken in den grössten Sack, den er fest verschnürt, und steckt zehn Paar Schuhe in die zweite Reisetasche. Jetzt kann ich noch nicht einmal mit dem Zug fahren, sondern muss versuchen, per Anhalter zum Bodensee zu gelangen. Bevor ich mit dem Hotelier verhandele, will ich noch schnell das Haustelephon benutzen, um Hilde zu sagen, dass ich augenblicklich abreise.

 

Er wählt die Nummer.

 

Männliche Stimme: Ja bitte?

 

Molar: Ist Fräulein Brünn wohl zu sprechen?

 

Männliche Stimme: Sie ist im Augenblick nicht im Büro. Kann ich ihr etwas ausrichten?

 

Molar: Ja. Bitte sagen Sie ihr, dass ich dringend abreisen muss und sie deshalb morgen abend nicht besuchen kann.

 

Männliche Stimme: Wer sind Sie denn?

 

Molar: Sagen Sie ihr einen schönen Gruss von dem, der als Dichter in der Dichtung steht.

 

Männliche Stimme: Molar, sind Sie es etwa, der spricht?

 

Molar: Ja.

 

Männliche Stimme: dassbin ich aber doch ganz „sprachlos“! Was fällt Ihnen ein, mit meiner Sekretärin anzubändeln? Das geht aber doch zu weit! Scheren Sie sich zum Teufel! Ich will Sie nie wiedersehen!

Und Molar, der Unglücksverfolgte, kann nur noch ein „Aber...“ entgegnen, denn Herr Pfaff hat den Hörer bereits aufgelegt.

 

Eine Stunde später erblicken wir den unter seiner Sackbürde gebeugten Molar, wie er die Landsberger Strasse entlang in Richtung Pasing marschiert. Während die eine Hand nikolausartig den Sackverschluss auf dem Rücken umfasst, hält seine andere poetenmässig die Aktentasche mit den inspirierten und eigenständigen Gedichten umklammert. Manchem Lastwagen gibt er mit Blicken und Gestikulationen zu verstehen, mitgenommen werden zu wollen. Aber das Glück ist ihm heute nicht hold. Der Sack wird doch schwer, wenn man ihn länger zu tragen hat. Ach, der Herr Gabelsberger machte einen Spektakel, als ich ihm sagte, ich könne die Zimmerrechnung nicht begleichen. Er drohte mit der Polizei. Ich zeigte ihm Lilias Telegramm und sagte auch, dass ich noch nicht einmal ein Kondolenztelegramm nach Thüringen senden könne. Gottseidank hat der Zimmerkellner Wallner unser Gespräch mitgehört und eilte mir zur Hilfe:

 

„Wie ist es möglich, Herr Doktor, dass Sie kein Geld mehr haben? Sie haben doch uns, das Personal, immer so grosszügig mit Trinkgeldern bedacht. Darf ich Ihnen wenigstens die Telegrammgebühren bezahlen?“ Endlich liess sich auch Herr Gabelsberger breitschlagen, die Reisetasche mit den zehn Paar Schuhen bis zu meiner Rückkehr als Kaution anzunehmen. Wieso reiht sich heute bei meiner Rückkehr Missgeschick an Missgeschick? Nun, vielleicht muss es auch solche Tage der Prüfung  geben. Desto mehr erfreut man sich an den Tagen, wo das Glück einem lacht. Nur nicht verzagen!