Peinlicher Zwischenfall

Aber in der folgenden Nacht konnte unser Dichterheld neben seiner zweiten Frau in dem Ehebett seiner Eltern keinen Schlaf finden. Er überdachte das zur mittäglichen Stunde Vorgefallene, dann weilten seine Gedanken bei seiner schönen Gerdassund ihrer glanzvollen Hochzeit 1936 in Rüstringen, und schliesslich war er wieder der ameisenbekrabbelte Münchhausen, der Maria in ihrer ganzen Schönheit vor sich stehen sah, welche ihn verheissungsvoll anlächelte. Und mit einem glücklichen Lächeln war er selbst eingeschlafen und hatte sie, seine Geliebte, mit in seine Träume hinübergezogen, wo er sie beobachtete, wie sie bei Kerzenschein, an einem Tische sitzend, einen Brief verfasste und auf den versiegelten Umschlag seinen Namen mit Bindestrich und Molar schrieb, darunter aber in Druckbuchstaben “Meersburg” und in Kleinschrift “postlagernd” hinzufügte.

 

So ist es auch nicht zu verwundern, dass er am späten Vormittag - er ist ein notorischer Langschläfer - Lilia gegenüber vorgibt, in der Stadt etwas erledigen zu müssen, wo er, dort angekommen, sich sogleich zum Postamt begibt, um Herrn Stegmann nach dem bewussten Brief zu fragen. Aber jener zuckt, die Hände dabei ausbreitend, bedauernd mit den Schultern, worauf unser sich stets wieder mit neuer Hoffnung Anfeuernder, den enttäuschenden Bescheid innerlich niederkämpfend, sich umdreht und dabei gegen einen Mann stösst, dessen roter Baedecker (Reiseführer) diesem durch den Anprall aus den Händen gleitet. Hutlüpfend und dabei das Hingefallene aufhebend, entschuldigt sich der Bodenseedichter, wobei er seinen Namen nennt und sich nach dem Woher und Wohin des Angerempelten erkundigt, der - um gut zehn Jahre jünger als unser Poet - wegen des “anstössigen” Vorfalls keinen Groll hegt, sondern bereitwilligst, nachdem er sich als “Jacobs” vorgestellt hat, ihm auf weitere Fragen unter anderem entgegnet, dass er aus Wilhelmshaven komme, sich aber jetzt auf einer Skireise in die Schweiz befinde.

 

Molar: So, aus Wilhelmshaven kommen Sie? Dann kennen Sie bestimmt meinen verstorbenen Schwiegervater und Arzt Dr. Harms in Rüstringen?

 

Als jener bejaht und auch dessen Tochter Gerdasskennt und vor allem mit ihrem jüngeren Bruder in ein und dieselbe Schulklasse gegangen war, lädt Molarius den Wintersportler und Schneebergfanatiker aus der norddeutschen Küstenebene in einen nahgelegenen Gasthof ein, wo beide, vom Heurigen kostend, angeregt die Unterhaltung fortsetzen.

 

Nur wenige Augenblicke später kommt wie zufällig Wolf durch die Tür herein, um dem Kellner, einem seiner “ehemaligen” Freunde, etwas auszurichten. Aber schon erblickt er seinen “Stiefonkel”, der ihm auch sofort zuruft: “Komm, mein Lieber! Setz dich auf ein Gläschen Wein zu uns!” Und zu dem Flachländer von der deutschen Wasserküste gewandt, sagt er: “Darf ich Ihnen meinen Schwiegersohn von Trotha vorstellen! “

 

Jacobs: Aber doch nicht etwa “Wolf” von Trotha?

 

Molar: Ganz recht. Sie kennen sich? Das ist aber interessant!

 

Jacobs: Mensch Wolf! Lass dich umarmen!

 

Und er umschlingt den stummen Vermisstgeglaubten, indem er ihn herzlich und freundschaftlichst an seine Brust drückt.

 

Jacobs: Lass dich anschauen! Erkennst du deinen Freund Emil nicht mehr? Ja, älter bist du geworden und abstehende Ohren hast du auch bekommen.

 

Wolf: Um Gottes willen! Was hat mir dieser Dichterdepp wieder eingebrockt. Ich könnte ihn erschlagen. Nur jetzt weg von hier!

 

Jacobs: Weisst du noch, wie wir monatelang vor Leningrad lagen und nachts zusammen bei dreissig Grad minus Wache schieben mussten und...

 

Wolf: Moment einmal! Ich muss dringend auf die Toilette. Gestatten Sie?

 

Und er dreht sich um und geht, ohne dem ihn jetzt entdeckt habenden und begrüssen wollenden “Ehemaligen” zu antworten, in jene Richtung, die der Pfeil an der Wand markiert, unter dem zwei Nullen (ab-ortige deutsche Symbolsprache) zu sehen sind. Jedoch der Toilettenstürmer öffnet nicht die Zweinullentür, sondern verschwindet durch den hinteren Ausgang und steigt, ohne sich nochmals umzudrehen, hastigen Schrittes die vielen Stufen seitlich des Alten Schlosses hinauf, um von dort den Heimweg ins versteckte Barackental anzutreten. Dieses tolpatschige Rindvieh von Hans Winfried! Der bringt doch alle Welt in Verlegenheit. Warum muss er sich immer Unbekannten gegenüber anbiedern? Er bringt es gewiss fertig, diesen verdammten Kerl auch noch ins Sommertal zu schleppen. Ja, ich wollte dem Egon melden, dass man zwei von den “Unsrigen” gestern in Überlingen festgenommen haben soll. Die Treibjagd ist noch immer in vollem Gang. Ich sollte nach Möglichkeit nicht mehr in die Stadt kommen, um diesen entsetzlichen Zufällen nicht mehr ausgesetzt sein zu müssen.


Molar jedoch und der en passant visitierende Küstendeutsche befinden sich weiterhin in eifrigem Gespräch, wobei unser Musenfreund den eifrig lauschenden Zuhörer markiert, der den von seiner Kriegsfreundschaft mit Wolf Erzählenden nur manchmal durch ein “Ach-wie-aufregend!” oder “Aber-nein!-Das-ist-doch-nicht-möglich!” unterbricht.

 

Jacobs: Ja, der Wolf war ein Pfundskamerad. Der war auch nicht so etepetete trotz seiner adligen Herkunft. Sie wissen ja, dass die Adligen seit der Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik offiziell nicht mehr viel zu sagen hatten. Aber die Leute haben ja so einen Respektsfimmel vor allen “Von-und-Zus”. Ein Adelstitel war auch noch zu Adolfs Zeiten einem Doktortitel ebenbürtig, zumindest beim Heer, dessen Generale doch fast zur Hälfte aus dem Adelsstand kamen. Wolf hat sich aber einen Dreck um seine Herkunft geschert. Er weigerte sich sogar, trotz Abiturabschlusses, Offizier zu werden. Er sagte mir einmal: “Ich kann doch unmöglich Menschen einen Befehl geben, auf andere zu schiessen.”

 

Molar: Das ist ja ein ganz prächtiger Mensch! In einem solchen Licht habe ich meinen Schwiegersohn noch gar nicht gesehen. dass sieht man wieder einmal, wie man sich täuschen kann.

 

Jacobs: Ja, Wolf war ein Pazifist. Er ereiferte sich für die Ideale der Brüderlichkeit auf internationaler Ebene. Er hat, wie er mir versicherte - und ich glaubte ihm -, nie auf Menschen geschossen. Ja, er war auch ein ganzer Romantiker. Er hat für seine junge Frau Liebesgedichte von wunderbarster Meisterschaft verfertigt.

 

Molar: Ja, der Wolf! Wer hätte so etwas von ihm gedacht! Ich werde ihn doch mal nach seinen Gedichten fragen müssen. Schade, dass sein Verhältnis zu Monika schon in die Brüche gegangen ist. Er ist doch ein zu bedauernder Mensch. Hält er nur deswegen nichts von meinen Gedichten, weil ihn diese zu sehr an die glücklichen Ehejahre mit seiner Frau zurückerinnern würden, in welchen er sich liebesdichterisch betätigte? Und wann haben Sie ihn zum letztenmal gesehen?

 

Jacobs: Ich bin 1943 nach Rumänien versetzt worden. Was dann aus ihm geworden ist, weiss ich nicht. Wir haben den Kontakt verloren, wie das so in der Kriegs- und Nachkriegszeit leicht passieren konnte. Ja um Gottes willen, der hält aber eine lange Sitzung.

 

Molar: Wenn er nicht gleich zurückkommt, werde ich mal nachsehen, wo er steckt. Ob er eine Darmverstopfung hat? Bestimmt wird er Herrn Jacobs zu uns in die Baracke einladen wollen. Dann könnte ich noch so viele interessante Einzelheiten erfahren.

 

Jacobs: Ich kann leider nicht mehr länger warten. Mein Schiff legt in zehn Minuten ab.

 

Molar: Warten Sie noch einen Augenblick. Ich werde mal eben auf der Toilette nachschauen.

Aber unser Romanheld findet hinter der erst angeklopften, dann aber geöffneten Nullnulltüre seinen gesuchten Gewährsmann nicht und kehrt unverrichteter Dinge zu dem jetzt seinen Mantel überziehenden Mann vom Jadebusen zurück.

 

Molar: Ich habe ihn nirgends gefunden. Er wird wohl draussen irgendwo auf uns warten.

 

Jacobs: Ich glaube nicht daran, dass ich ihn noch einmal wiedersehen werde. Ich habe so ein zweideutiges Gefühl, dass dassirgend etwas nicht stimmt. Denn wie er reagierte, kenne ich ihn doch gar nicht. Wir waren doch engste Freunde. Ich glaube, dass es sich um eine Verwechslung handelt. Diese abstehenden Ohren, dieser breite Mund. Trotzdem, es ist alles zu merkwürdig. Vielleicht sollte ich einmal Nachforschungen anstellen lassen.

 

Und als sich unser einfältig - einfallsreicher Dichter-Tor von seiner Zufallsbekanntschaft verabschiedet, ruft er ihm noch über die Reling zu: “Bei ihrem nächsten Abstecher nach Meersburg müssen Sie gleich zu uns ins Sommertal kommen. Wolf wird sich sicherlich über Ihren Besuch freuen.


Und am Nachmittag stellt ihn der sich in seine “Wolfsschanze” zurückgezogen habende Stiefschwiegersohn zur Rede.

 

Wolf: Über was habt ihr noch alles miteinander geredet?

 

Molar: Ich wollte ihn heute zu uns einladen. Sicherlich hättest du dich gefreut, dich mit deinem besten Freund lang und breit unterhalten zu können. Aber du warst ja auf einmal verschwunden.

 

Wolf: Ich muss euch wohl beim Zurückkommen übersehen haben.

 

Molar: Nun ja, er kommt ja wahrscheinlich bald einmal bei uns vorbei, denn ich habe ihn in deinem Namen eingeladen.

 

Wolf: Was? Du Knallkopf! Was fällt dir einfach ein, wildfremde Leute anzuquatschen und diese für andere Personen, ohne deren Einverständnis zu besitzen, auch noch einzuladen?

 

Molar: Aber er sagte doch, dass er dein bester Freund sei.

 

Wolf: Ich will ihn gar nicht sehen. Denn wie ich dir offenbaren muss, schulde ich ihm noch eine Menge Geld. Der wird jetzt sicher froh sein, durch dich Hornochsen meine Adresse erfahren zu haben. Jetzt wird er mir bestimmt die Polizei auf den Hals hetzen, um von mir das Geld zurückzubekommen.

 

Molar: Ach so! Jetzt verstehe ich erst. Das habe ich ja alles nicht gewusst. Entschuldige bitte. Aber wenn es zum Ärgsten kommen sollte, dann werde ich deine Schulden mit meinem auf Dichterfahrten erarbeiteten Geld begleichen. Apropos Gedichte. Dein Freund hat mir erzählt, dass du vor Leningrad wunderbare Meisterliebesgedichte für Monika ge...

 

Wolf: Halt deine verflixte Schnauze! Ich will nichts mehr von diesem Freund und schon gar nichts von verteufelten Gedichten hören! Du tausendfältiger Idiot!


In der folgenden Nacht aber hat Molars angeheirateter Schwiegersohn einen Traum. Er sieht seinen Vater, wie er, betrunken, seine Mutter ohrfeigt und sich dann ihm, dem zehnjährigen Dazwischentretenden, zuwendet und ihn mit den Fäusten bearbeitet. Er wacht auf. Sein Nachthemd ist von Schweiss durchnässt. Diese ekelhaften Schreckträume. Warum verfolgen sie mich bloss? Ich wünschte, ich könnte einmal ebensogut schlafen wie dieser Nachtschwärmer nebenan. Selbst wenn ich mit dem Hammer seine Schlafzimmerwand klopfend repariere, schläft er immer noch unbekümmert weiter. Der hat bestimmt noch ein unschuldiges Gewissen wie ein Kind. Ja, er ist ja auch noch ein Kind.

 

Ich würde gern noch mehr über Wolf erfahren. Er scheint doch eine verwickelte Figur zu sein.

 

Ja, eine echte Wolfsnatur. So scheint es wenigstens. Sicherlich werden wir noch ausführlich seine Vergangenheit studieren können. An dieser Stelle jedoch soll es genug sein, wenn ich dir sage, dass er mit fünfzehn Jahren seinen betrunkenen Vater, dass dieser ihn und seine Mutter grausamst zu schlagen pflegte, mit einem Hammer “vorsätzlich” erschlug. Von der über ihn verhängten fünfjährigen Jugendstrafe sass er über viereinhalb Jahre in einer Jugendstrafanstalt ab. Seine Mutter war in der Zwischenzeit - aus Kummer wohl - verstorben.