Olympischer Orgasmus

Das „deutsche Volk“ sitzt zu Millionen vor seinen neuen Volksempfängern (Radios) versammelt und hört sich die Direktübertragung aus der deutschen Reichshauptstadt an. Überall aufgeregtes Gespanntsein und freudige Erwartung des heutigen und der nächsten Tage. Es ist der 1. August 1936, Tag der Eröffnung der elften Olympischen Spiele „neuer“ Zeitrechnung. Wir beide könnten natürlich irgendwo in einem der hunderttausend Heime einen Mithörerplatz in Beschlag nehmen, erlauben uns jedoch, von unserer „Freizügigkeit’ Gebrauch zu machen und ohne Eintrittskarte - unverschämterweise also - uns in das gefüllte Berliner Olympiastadion zu begeben, wo wir uns, dasskein Platz freigeblieben ist, direkt hinter unseren Gewährsmann und seine ihm kürzlich anverlobte Gerdassstellen, ohne den hinter uns Befindlichen aufgrund unserer „undurchsichtigen“ Durchsichtigkeit den Blick auf die grüne Mitte und die darum ovalförmig sich nach oben staffelnden, zuschauergedrängten Tribünen- und Stehplätze zu versperren. Aber dass wir den fast zweihunderttausend Augen - inklusive jener der einäugigen Kriegsveterarien - sowieso unerkennbar sind, wollen wir uns auch für das weitere Geschehen in diesem Kapitel entfärben und unsere Farblichkeit ausnahmsweise (!) samt dem Hellblau, Violett und Rot fünf um und neben uns Sitzenden verleihen, um deren Gedanken oder Worte, voneinander abgehoben, markieren zu können.

 

Hans Winfried: Haben wir nicht grossartige Plätze erwischt?

 

Gerda: Ja, mein Lieber. Er hatte diese beiden Platzkarten noch heute morgen irgendwo und -wie ergattern können. Dann kam er in unser Hotelzimmer zurück und frage mich freudestrahlend: „Rate einmal, was ich in der Hand habe?“ Nun, ich habe die zwei Eintrittskarten nicht erraten können, waren doch alle Karten schon Wochen vorher restlos ausverkauft. Ich wollte ja diesen Rummel gar nicht mitmachen. Aber durfte ich ihn enttäuschen und nicht mitkommen?

 

Jetzt ist es zwanzig vor vier. Um vier soll der Führer das Stadion betreten. Für die Zeit der Olympischen Spiele mussten ja leider alle antijüdischen Verbots- und Hinweisschilder verschwinden. Selbst der „Stürmer“ (antijüdisches Hetzblatt) darf vorübergehend nicht mehr an den Kiosken ausliegen. Aber wenn die „Spiele“ vorbei sind, dann geht es wieder im „Klartext“ gegen den jüdischen Vampir weiter. Jetzt müssen wir der Welt etwas „vor-lügen“. Die Olympiade gibt uns die Chance, die ganze Welt von uns und unserem Neuen Deutschland zu beeindrucken, ja, vielleicht auch zu begeistern. Meine Eltern sitzen jetzt am Radio. Sie haben den Apparat gerade noch rechtzeitig kaufen können. Es sind die ersten Olympischen Spiele, die im Rundfunk gesendet werden. Wie herrlich, dass jetzt jeder Rundfunkteilnehmer bei den grossen Geschehnissen der Zeit „direkt“ dabeisein kann. Auch des Führers Stimme kann nun in jedes Haus dringen. Es ist eine Lust, in diesem Jahrzehnt zu leben. I am all excited to see the German Mussolini. He is a threat to all of Europe. How could the Germans have fallen for him? Was ist das heute für ein grosses Ereignis! Zweiundfünfzig Nationen nehmen an den Wettkämpfen teil. Ja, wir haben unsere ausländischen Gäste und die olympischen Mannschaften empfangen, wie sie wohl noch nie von irgendeiner Nation empfangen worden sind. Was sagte uns Goebbels noch vor den Spielen? „In den nächsten Wochen müssen wir charmanter sein als die Pariser, gemütlicher als die Wiener, liebenswürdiger als die Römer, weltmännischer als die Londoner und praktischer als die New Yorker.“ Wir haben uns an seinen Rat gehalten. Die Ausländer sind überwältigt von unserer Gastfreundschaft. Wir werden sie auch mit unseren Goldmedaillen in Erstaunen versetzen. Der Führer wird gleich kommen. Ich habe mein Fernglas bereit. Ich bin so froh, dass ich heute hier dabeisein kann. Die Partei hat mir diese Eintrittskarte besorgt. Ja, ohne die Partei wäre ich schon von manch Erfreulichem ausgeklammert gewesen.

 

Gerda: Gibt es wohl heute hier im Stadion - von einigen Ausländern abgesehen - irgendeinen deutschen, der nicht mit pannung darauf wartet, dass der „Führer“ das Stadion betritt, um „seine“ Olympischen Spiele zu eröffnen? Mein Vater ist fünf Wochen vor Hitlers Machtübernahme gestorben. Aber er warnte wiederholt seine Familie und Freunde vor ihm. Was sagte er noch damals am Mittagstisch: „Hütet euch vor diesem Hassprediger. Er sieht in den Menschen nur ein Mittel zum Zweck, denn er kennt die Nächstenliebe nicht. „ Als Hans Winfried seinen Eltern schrieb, dass wir uns in aller Stille verlobt hätten, dassschickten sie uns als Verlobungsgeschenk „Mein Kampf“ mit Goldschnitt. ich bekam einen richtigen Schreck. Trotzdem habe ich mal versuchsweise eine Seite aufgeschlagen. Was las ich? „Ziel der Aussenpolitik“ sei es, für das deutsche Volk die „notwendige Scholle“ im osteuropäischen Raum zu gewinnen. Mehr brauchte ich nicht zu lesen. dasswusste ich Bescheid. Seitdem ist mir alles verständlich, worum es ihm geht. Aller Glanz und Gloria, alles deutschgetön, alle Volksaufklärung, Jugenderziehung, sogar das Erbauen von Autobahnen führen auf das eine, alles überragende Ziel hin: Krieg! Vielleicht meint er es in seinem Wahn ehrlich, dass er den Raumgewinnungskrieg nur aus Liebe zum deutschen Volk unternimmt. Aber sein übermächtiger Hass an sich schliesst eine so anders geartete Extremhaltung aus. Vielleicht will er auch nur seinen Namen in das Buch der Weltgeschichte à la Napoleon einschreiben oder aber, es gäbe höhere Gründe, die wir Menschen nicht ermessen können. Er gewinnt sich die Gunst des Volkes mit panem et circenses (Brot und Spiele). Und das Volk schreit „Heil Hitler!“ Jetzt ist schon die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Wann wird dieser Raumeroberungskrieg losgehen? Und dieser ganze Olympiadenzirkus dient nur als verdeckende Maske seiner Eroberungsvorbereitungen. Wir Menschen lassen uns ja so leicht hinters Licht in die Dunkelheit führen, wenn einer kommt und schöne Reden hält. Wir sind doch eigentlich noch törichte Kinder.

 

Hans Winfried: Die Olympischen Spiele haben wir den alten Griechen zu verdanken. Welch grosse völkervereinende Idee ist doch damals schon verwirklicht worden! Auch heute gilt wieder: „Wer kennt die Völker, nennt die Namen, die gastlich hier zusammenkamen?“ Ja, ich freue mich vor allem, dass dieses internationale friedliche Zusammenfinden der Engstirnigkeit des deutsch-völkischen Gedankens die Stirne bietet und jene Germanenfanatiker aus ihrer nationalen Verbohrtheit wachrüttelt. Jetzt gibt es an allen Kiosken wieder internationale Zeitungen zu kaufen. Sogar zwei deutschjüdische Sportler dürfen im deutschen Olympiateam dabeisein. Die diesjährige Olympiade wird sicher zum Weltfrieden beitragen. Die deutschen werden erkennen müssen, dass alle Bürger dieser Welt unsere Brüder und Schwestern sind und wir eine einzige Familie bilden. Wir dürfen uns nicht von Hitler zu einem Volksegoismus verführen lassen. Ich hoffe, dass dieses Weltsportereignis bei vielen eine innere Umkehr bewirken wird. Ja, die Olympischen Spiele sind jeweils die geheiligten Feiertage für alle Pazifisten.

 

Einundvierzig ausländische Rundfunkanstalten übertragen dieses Sportereignis. Millionen Menschen werden selbst in fernen Ländern unseres Führers Stimme bei der Eröffnungsrede hören können. Ja, die „via triumphalis“ vom Alexanderplatz bis hierher zum Stadion ist eine überwältigende Sehenswürdigkeit. Überall die langen herabhängenden, sich miteinander abwechselnden Hakenkreuz- und Olympiafahnen. Und „Unter den Linden“ (Prachtstrasse) befinden sich gar zusätzlich über zweihundert Masten mit sechs Meter langen Fahnen der Wappen und Namen deutscher Städte. Viele Häuser sind zusätzlich noch mit Grüngirlanden und weiteren Fahnen geschmückt. Doch der Adolf-Hitler-Platz wirkt in seinem Schmuck am prächtigsten. So eine Triumphstrasse hat es bestimmt seit den Tagen der „alten“ Römerkaiser nicht mehr gegeben. This is the biggest and newest stadium of the world. The Führer didn’t save money on it. It is a big show-off. Very impressive. Almost a hundred thousand foreigners are supposed to be in town for the games. Dem Führer haben wir alles zu verdanken. Er hat Deutschland wieder auf Hochglanz gebracht. Wir geniessen wieder Ansehen in der Welt. Ja, er will nur den Frieden, wie er immer wieder beteuert. Und diese grandiosen Olympischen Spiele sollen seinen Friedenswillen unterstreichen. Jetzt ertönen die Fanfaren. Der Führer wird gleich das Stadion betreten. Es ist sieben Minuten vor vier. Alles geht nach Plan. Er kommt! Nein, noch nicht! Wenn doch mein Vater dabei sein könnte! Ich habe noch nie den Führer gesehen. Ich bin so aufgeregt. Take it easy, boys!

 

Hans Winfried zu einem vor ihm sitzenden Afrikaner: The Führer will come in just a moment. You have your camera ready?

 

Afrikaner: Yes, thank you! I think today must be the greatest day in the history of Germany.

 

Gerda: Ja, jeden Augenblick wird die Hölle losgehen, sobald der Führer einmarschiert. Die Fanfaren kündigen schon sein Herannahen an. Gleich werden alle aufstehen und „Heil Hitler! schreien. Ach, warum bin ich nur hierhergekommen? Ich fühle mich unbehaglich. Warum mussten wohl diese Olympischen Spiele gerade zu dieser Zeit nach Deutschland vergeben werden? Ist es blosser Zufall? Aber ich habe das Gefühl, dass alles von unbekannter Hand gesteuert wurde, um die Welt und vor allem die deutschen mit Hitler und seiner „Grossartigkeit“ zu beeindrucken. Wohin soll das noch einmal führen? Ja, meine lieben deutschen, die sehen in Hitler ihren grossen Retter, der sie von allen Wirren der Zwanziger Jahre und der grossen Arbeitslosigkeit befreite. Aus Dank gönnen sie ihm gerne alle Macht. Denn sie glauben, er werde für sie auch weiterhin schon das Richtige vollbringen. Aber er wird ihre Leichtsinnigkeit und ihr Vertrauen ausnützen. Er wird sie hörig machen. Und wenn er sie alle hinter sich weiss oder sie doch genug im Griff hat, darin wird er den Krieg beginnen. Und später kommt die Reue. Dann ist es zu spät. Hoffentlich muss ich das nicht mehr miterleben.

 

Er kommt! Der Führer marschiert ins Stadion! Ich will mich hinstellen. Alle stehen auf. dassmuss ich auch aufstehen. I want to see him. I have to get on my feet. Heil Hitler! Heil Hitler!!! Mir kommen die Tränen. Führer, ich liebe dich. Ich werde dir in allem gehorchen. Durch mein Fernglas sehe ich ihn genau. Er geht zu seiner Loge. Man spielt Wagners Huldigungsmarsch. Ja, wir huldigen ihm jetzt alle. Er hat die grösste Huldigung, die ein Volk seinem Ersten im Staat erweisen kann, auch wirklich verdient. What an impact of emotions! Tears! Craziness! How much must his people love him. They would sacrifice everything for him. And he is just three and a half years in office! I do not know of any phenomenon like this in men’s history. They worship him. Everywhere tears! I have never experienced anything like this before. I am getting carried away too. Jetzt steht er in seiner Loge. Er streckt die Hand zum deutschen Gruss aus! Heil Hitler!!! Heil Hitler!!! Heil Hitler!!!

 

Gerda: Ich stehe nicht auf und vermache ihm etwa auch meine Seele. dassstehen sie alle schreiend, berauscht. Sogar Hans Winfried versucht den Führer zu erspähen. Er ist auch noch ein Mitmacher, wenn auch in einem weitergespannten Sinn. Ja, fast alle deutschen sind  i h m schon total hörig. Die meisten glauben ihm blind. Jetzt erklingt das Deutschlandlied. Alle brüllen mit. Auch Hans Winfried. Ich fühle mich hier so vereinsamt.

 

Erster Herr: Warum stehen Sie nicht auf?

 

Gerda: Um Gottes willen. Man wird auf mich aufmerksam.

 

Zweiter Herr: Eine Volksverräterin, die den Führer nicht ehrt.

 

Eine junge Frau: Ja, eine Defätistin, die nicht einmal beim Deutschlandlied aufsteht!

 

Dritter Herr: Perhaps a Jew?

 

Erster Herr: Ja, eine Jüdin wird sie sein! Das hat uns gerade noch gefehlt! Gehen Sie raus!

 

Vierter Herr: Ja, raus!!

 

Gerda: Jetzt blicken viele mich ganz entrüstet an und schimpfen auf mich. Ich bekomme jetzt Magenkrämpfe. Ach, auch das noch!

Hans Winfried! Hans Winfried! Er brüllt mit. Er hört mich nicht. Ich will ihn am Hosenbein zupfen.

 

Hans Winfried: Was ist?

 

Gerda: Lass uns bitte sofort gehen!

 

Hans Winfried: Aber Liebling, weshalb denn?

 

Gerda: Ich bekomme Magenkrämpfe.

 

Zweiter Herr: Ja, bringen Sie die Dame weg! Aber dalli! Sonst werden wir den Ordnern Bescheid sagen, sie gleich nach Dachau zu bringen, diese deutschenhasserin!

 

Vierter Herr: Juden raus!

 

Hans Winfried: Ich begreife nicht! Was sagen Sie? Meine Verlobte ist keine Jüdin! Sie ist eine Vollarierin!

 

Junge Frau: Dann um so schlimmer! Sie steht nicht zu ihrem Volk! Sie boykottiert den Führergruss und das Deutschlandlied! Bringen Sie sie raus, sonst könnte hier spontaner Volkszorn entsehen! Jawohl! Genau!

 

Hans Winfried: Aber verstehen Sie doch! Sie hat nur Magenkrämpfe.

 

Erster Herr: Magenkrämpfe oder nicht! Jedes Zurückstehen oder Sitzenbleiben zu dieser deutschen Sternstunde ist eine Schmach für Deutschland! Es geht jetzt vorwärts! Es weht ein anderer Wind!

 

Vierter Herr: Wir müssen heute alle zeigen, dass wir geschlossen hinter dem Führer stehn. Jawohl! Sehr richtig!

 

Gerda: Komm! Verteidige mich nicht! Lass uns gehen! Bitte sofort!

 

Und während die Frischverlobten sich durch die Reihen drängen, erschallt aus allen Ovalrundrichtungen der Schlussrefrain des Deutschlandliedes: „Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!“ Und dass die gewaltige Menschenansammlung aus nah und fern schon einmal steht und „eingesungen“ ist, spielt die Olympiabläserkapelle gleich das einst parteiinterne Horst-Wessel-Lied. Und..., nun, man singt mit: Das wäre ja noch schöner, wenn wir uns ausklammern würden von allen anderen! Die nationalsozialistische Propagandassist „geschickt“ und hat keine der sich bietenden rattenfängerischen Massnahmen bei diesem Olympischen Orgasmus unausgenutzt gelassen. Und unsere der Psychomasturbation Entrückten treten hinaus aus dem jetzt von der Olympischen Fanfare widerhallenden Oval.

 

Gerda: Bitte, führe mich zu irgendeiner Bank. Ich muss mich dringend hinlegen. Ich habe entsetzliche Krämpfe.

 

Hans Winfried: Ich trage dich dort nach drüben hinter die Eingangssperre. dassgibt es einen Rasenstreifen.

Und auf der Grasnarbe ruhend, sagt Gerda: Bitte, gehe du zurück und erlebe den Auftakt dieses internationalen Weltwettkampfes. Dir liegt doch die globale Verbrüderung unter den Olympischen Ringen und den Hakenkreuzen so sehr am Herzen. Es ist besser, ich bleibe mit meinen Schmerzen alleine.

Hans Winfried: Das kommt auf keinen Fall in Frage. Ich werde einen Sanitätswagen herbeiholen. Dann werden wir dich in unser Hotel befördern.

 

Und also geschieht es. Und unserem Friedensapostel aus Thüringen bleibt es „leider“ missgönnt, den Einzug der Nationen beim Klang von Marschmusik miterleben zu können, um auch Zeuge zu sein bei dem Hitlergruss, den die französischen Olympioniken dem deutschen Caesar in diesem Circenses-Kolosseum zur friedlichen Feierstunde entbieten. Europa darf seit den Tagen Napoleons wieder einen überstarken Mann bewundern - oder fürchten -, dem man auch allgemein zutraut, dass er weiterhin „steigerungsfähig“ ist. Und mit seinem Sternaufstieg zum Zenit hin wachsen die Volksberauschungen, aber auch die Todesängste der „Imwegstehenden“.

 

Mit dreiundreissig Goldmedaillen wird Deutschland überraschenderweise der überragende Gewinner der Olympischen Spiele sein und die sonst siegesgewohnten USA um neun Goldmedaillen übertrumpfen. Die Berliner Olympiade ist die moralische Rehabilitierung Deutschlands als Weltmacht.