In Langensalza angekommen und sich nach einer Mitfahrgelegenheit nach Bäringen erkundigend, werden unsere beiden Grenzüberschreiter von zwei Männern in Ledermänteln angehalten, die Lilia nach ihrem Ausweis fragen. Und dass sie die rechtmässigen Papiere mit dem Stempel und Stern der sowjetischen Militärverwaltung nicht vorzuweisen vermag, werden die beiden Missetäter gebeten, „zur weiteren Identifizierung“ mitzukommen. Man führt sie in ein Verwaltungsgebäude und stellt sie einem „weisungshöheren“ deutschen Beamten der sowjetischen Sicherheitspolizei vor, der nach kurzem Verhör, das er insgeheim „sehr aufschlussreich“ und von „höchster Wichtigkeit“ findet, einen Brief an den sowjetischen Polizeikommissar, seinen Vorgesetzten, mit folgendem Inhalt verfasst:
Lieber Genosse Kuragin!
Unseren Sicherheitsbeamten gelang es heute morgen, eine Frau Bröckelberger, geborene von Dreiling, mit ihrem neunjährigen „Stiefsohn“ nach ihrem illegalen Grenzübertritt in die Sowjetische Besatzungszone in Verwahrsam zu nehmen. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass es der Aufmerksamkeit unserer Agentenabwehr geglückt ist, eine Agentin der kapitalistischen Kriegshetzer zu stellen, bevor es ihr gelang, Informationen über die militärischen Sicherheitsmassnahmen der ruhmreichen sowjetischen Volksarmee den Aggressivmächten des Westens zu vermitteln. Besonders verdächtig erscheinen mir nebst den oben unterstrichenen Eigenschaften, dass sie behauptet, Parteimitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands vor der Machtübernahme des grossimperialistischen Teufels gewesen zu sein. Aus besagten Gründen halte ich es, geschätzter Genosse, für meine Pflicht, Ihnen diesen Fall selbst anzuvertrauen.
Vervollständigt werde der Sieg des Sozialismus und die Befreiung aller vom Kapitalismus unterdrückten Völker dieser Erde! Lang lebe unser geliebter Genosse Josef Stalin!
Ihr Genosse Hockemeyer
Diesem Brief und seinem Umschlag drückt er den Stempel mit den russischen Lettern „Geheimsache“ auf, ruft einen „seiner“ Ledermantelmänner herein und gibt diesem den Brief mit dem Auftrag, ihn dem Kommissar Kuragin persönlich zu überliefern und Frau Bröckelberger und Stiefsohn „zur weiteren Ermittlung“ mitzunehmen.
Nikolai Kuragin ist fünfunddreissig Jahre alt und
trägt auf seiner braunen Uniform die Rangabzeichen nebst Verdienstkreuzen eines mittleren Offiziers der sowjetischen Militärpolizei. Er ist Oberkommissar für personelle Ermittlungen des
Landkreises Langensalza. Er liest den ihm eben übergebenen Brief. Eine verwitwete von Dreiling? Sie ist doch nicht etwa mit der Gutsbesitzerfamilie in Ostpreussen verwandt, bei der ich zwei Jahre als kriegsgefangener Landarbeiter und Stallknecht geduldet worden bin? Auf jeden Fall hatte ich es dort besser als in einem der deutschen Kriegsgefangenenlager, wo man verhungern konnte, oder in einer der vielen
Munitionsfabriken, wo man dauernd Überstunden zu leisten hatte. Nein, bei Dreilings hatte ich es gut. Ich bekam genügend zu essen, auch wenn ich zwölf Stunden am Tag arbeiten musste. Aber das war ich von zu Hause aus gewöhnt.
Den Hof meines Vaters habe ich jetzt schon seit zwölf Jahren nicht mehr gesehen. Er schreibt mir, dass alles noch beim alten geblieben sei, bis auf die erneuerte Scheune, dass die alte bei den
Kämpfen von einem deutschen Panzer durchfahren wurde und dann in Flammen aufging. Wann gehe ich endlich heim? Er wartet auf mich. Ich bin sein ältester Sohn, der einmal den Hof „übernehmen“ soll.
Er hat immer noch nicht begriffen, dass der Staat schon „sein einziger Erbe“ geworden ist. Nein, ich gehe nicht mehr auf einen Hof und schufte zwölf Stunden am Tag. Man kann wirklich müheloser
leben und dabei seinem Volke noch nützlicher sein.
Kuragin betätigt die Klingel und gibt dem vor ihm die Stiefel zusammenklappenden Soldaten den Befehl, Frau Bröckelberger hereinzuführen, ihren Sohn aber draussen warten zu lassen.
„Nikolai!“, so ruft die hereingetretene Lilia aus,
als sie dem Oberuntersuchungskommissar gegenübersteht: „Welche Überraschung!“ „Ganz recht, Frau Dreiling“, so entgegnet ihr der Angeredete in fliessendem deutsch. „Ich bin Kuragin, Ihr ehemaliger
Stallknecht, der Ihrer Tochter das Reiten beibrachte. Ich bin ebenso überrascht, Sie hier zu sehen. Darf ich fragen, woher Sie jetzt kommen und wohin Sie wollen?“
Lilia: Sei vorsichtig! Erzähle ihm nicht zuviel, auch wenn du glaubst, ihm Vertrauen schenken zu können. Sage ihm nicht, dass du gekommen bist, um Möbel abzuholen.
Und sie berichtet ihm über ihre zweite Heirat und die Lebensumstände in ihrer jetzigen Heimat am Bodensee. Er war mir früher immer sehr sympathisch, dieser ukrainische Bauernsohn einer deutschsprechenden Mutter. Er war fleissig, und wir behandelten ihn nicht wie einen Kriegsgefangenen, sondern wie einen uns treu Ergebenen. Nur der Lorenz schlug ihn zweimal und drohte ihm mehrere Male an, ihn ins Gefangenenlager zurückführen zu lassen. Vielleicht sah er in ihm einen heimlichen Liebhaber meiner ihm angetrauten Tochter. Und auf seine Frage nach ihrer Flucht aus Ostpreussen - er bietet ihr währenddessen eine Zigarette an - berichtet die ehemalige Gutsherrin über ihr Nachkriegsschicksal und fragt ihn schliesslich, wie es ihm nach dem Fall Ostpreussens ergangen sei.
Kuragin: Frau Dreiling, das sehen Sie ja selbst. Dank meiner deutschkenntnisse wurde ich für einsatzfähig befunden, in Deutschland meinem Vaterland dienen zu dürfen. Ja, ich hatte Glück, nicht wie die meisten der in deutsche Kriegsgefangenschaft geratenen sowjetischen Soldaten wegen angeblichen „Desertierens“ und „Feindbegünstigens“ nach Sibirien in ein Zwangsarbeitslager geschickt zu werden. Wo ist der Herr SS-Hauptsturmführer Sägerlein, Ihr Schwiegersohn, mit Frau und Tochter verblieben?
Lilia: Von meinem Schwiegersohn haben wir nichts mehr gehört. Er soll während der Endkämpfe an der südthüringschen Grenze erschossen worden sein. Genauere Angaben besitzen wir auch nicht.
Kuragin: So hat diesen Judenvergaser doch noch das Schicksal ereilt, auch wenn es für viele Tausende der Ermordeten schon zu spät war. Nun, für ihn ist es wohl besser gewesen, durch eine Kugel ein so glimpfliches Ende gefunden zu haben. Wir würden ihn bestimmt nach Sibirien in ein Lager zur seelischen Abbusse transportiert haben, während die mordlustigen Amerikaner ihn gleich gehängt hätten. Wie Sie wissen, hat unser grossmütiger Generalissimus (Stalin) die Todesstrafe in nahezu allen Fällen abgeschafft. Bei uns soll der Fortschritt und die Humanität siegen. Und für dieses weltweite Ziel müssen alle dem Guten sich willig zuneigenden Kräfte mobil gemacht werden, um jenen dem Frieden und der Freiheit hinderlichen kapitalistischen Machthabern das Handwerk zu legen. Sie, Frau Dreiling, haben bei der Vorermittlung ausgesagt, dass Sie Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen seien. Wie kann es möglich sein, dass Sie, eine adlige Gutsbesitzerin, Kommunistin sein wollen? Ein Kapitalist als Kommunist, das hat es seit Friedrich Engels nicht mehr gegeben.
Lilia: Ich bin schon 1918 Spartakistin gewesen und habe an der deutschen Revolution teilgenommen. Man nannte mich die „Rote Lilia“, und ich war stolz auf diesen Titel. Bis ich meinen Mann heiratete, war ich aktives Mitglied der KPD. Ich verfasste und verteilte Flugschriften, habe auch Ernst Thälmann persönlich kennenlernen dürfen. Wie Sie selbst wissen, habe ich unsere Landarbeiter nie wie niedrige Knechte behandelt, sondern habe versucht, trotz der Entrüstung meines Mannes Reformen einzuführen.
Kuragin: Ja, ich erinnere mich, dass kurz vor unserer Trennung von einer KPD-Mitgliedschaft Ihrerseits die Rede gewesen war. Ich habe damals nur darüber gelacht, denn das klang mir doch zu unglaubhaft.
Lilia: Nun, die Nazis hatten herausgefunden, wer unter dem Namen Lilia Schmidt die „roten“ Pamphlete verfasst hatte. Aber mein Mann war ja Generalmajor der Luftwaffe, und man traute sich daher nicht ohne weiteres, seine Frau zu inhaftieren. Als sich schliesslich Herr Sägerlein mit meiner Tochter verheiratete, dasswusste ich, dass ich nicht doch noch abgeholt werden konnte. Aber ich habe bis dahin während der ganzen Naziära in Ängsten gelebt, in ein Konzentrationslager abgeführt zu werden und das Schicksal der Parteigenossen und Juden teilen zu müssen.
Kuragin: Was Sie mir dassanvertrauen, ist ja sehr aufschlussreich. Dann sind wir ja Genossen, denn auch ich war schon vor meiner Gefangenschaft Parteimitglied. Genossin Lilia, dann können wir uns ja duzen, nicht wahr? Ich habe noch eine Flasche Krimsekt hier im Schrank, die können wir doch zu Ehren von Väterchen Stalin leeren. ... Prost, Genossin!
Lilia: Prost, Herr Genosse!
Auf einer Bank vor dem Untersuchungszimmer sitzt
Wahrfried. Er ist ungeduldig. Der Mami wird doch nichts passiert sein? Vielleicht hat man sie jetzt gefesselt und foltert sie. Aber weswegen? Was hat sie denn Böses begangen? Wir
holen doch nur unsere Möbel ab. Ich habe Angst. Was wird aus mir werden, wenn man Mami verhaftet? Werde ich auch nach Sibirien verschleppt werden? Wie sehr wird Edelgard weinen, wenn ich nicht
mehr nach Meersburg zurückkommen sollte. Aber Onkel Dörr sagt ja, dass man sich seinem Schicksal geduldig ergeben soll, denn auch das, was uns weh tut oder uns widerwärtig ist, sind Aufgaben, die
wir in der Schule des Lebens zu lösen haben. Alles unterliegt doch letzten Endes dem guten Zweck, sich immer weiter nach oben hin entwickeln zu dürfen. Ich bin ja so froh, in Onkel Dörr einen
geistigen Lehrer zu haben, denn ohne ihn würde ich jetzt vor Angst den Verstand verlieren. Aber ich muss tapfer sein. Was soll auch der hier wachhabende russische Soldat von mir denken, wenn ich
wie ein Kind weinen würde? Nein, Tränen sind für Mädchen da, nicht für mich. Ich sollte mir an Hermann ein Beispiel nehmen.Der ist noch tapferer als ich, während mir doch noch hin und wieder die
Augen nass werden.
Kuragin: Genossin Lilia, wir dürfen uns
aber nur im Privaten duzen. In der Öffentlichkeit bleiben wir Genosse und Genossin „Sie“. Und was ist aus deiner schönen Tochter geworden? Monika würde ich sofort zu meiner Frau machen. Für
sie würde ich auf all die vielen anderen Mädchen und Frauen, die in meinen Gewahrsam fallen, verzichten. Ich habe sie nicht nur heimlich geliebt, ich war auch ihr erster Liebhaber. Sie hat mir ganz schön den Kopf verdreht. Und dann musste sie diesen Judenvergaser Hals über Kopf heiraten. Ich habe sie dafür verflucht und habe doch oft um ihren Verlust
geweint.
Lilia: Ich weiss nicht, wo sie im Augenblick steckt. Sie brachte mir vor anderthalb Jahren Helga nach Meersburg und ist seit letztem Jahr wieder spurlos verschwunden, ohne mir geschrieben zu haben, wo sie sich eigentlich befindet. Hoffentlich ist ihr nichts zugestossen.
Kuragin: Monika ist so überragend schön, dass ich selbst von einem General Eisenhower annehme, er würde sie nicht verschmähen (letzteres ist - übrigens wie auch schon oben - in russisch gedacht, aber wir können ja alle Gedanken lesen und haben somit keine Sprachschwierigkeiten). Deine Tochter hätte die Möglichkeit, unserem siegreichen sowjetischen Volk und damit der ganzen friedliebenden Welt durch Abwehrarbeit gegen die erneuten Aggressionsabsichten der amerikanischen, französischen und englischen Imperialisten im Westen gute Dienste zu leisten. Wir würden sie bestimmt fürstlich bezahlen, so dass sie auch dich und deine neue Familie gut unterstützen könnte. Sobald du weisst, wo sie sich aufhält, teile es mir mit, damit wir durch Mittelsmänner mit ihr in Kontakt treten können.
Lilia: Ich glaube nicht, dass sie sich für solche speziellen Aufgaben eignen könnte. Sie ist keine Überzeugte wie ich.
Kuragin: Aber wenn es die Ideologie nicht schafft, überzeugen zu können, dann sollte doch das Geld einen Gesinnungswandel herbeiführen, wenngleich Geld für eine richtige Agentin selbstverständlich nur Nebensache bleiben darf. Nun, vielleicht finden wir auch für dich noch einen kleinen Nebenverdienst am Bodensee. dass du noch zwei Wochen in Thüringen zu bleiben gedenkst, würde ich dich bitten, vor deiner Rückreise mich auf jeden Fall nochmals aufzusuchen, damit wir eventuelle Einzelheiten absprechen können.,
Lilia: Soll ich ihn jetzt fragen, ob er mir beim Möbelholen behilflich sein kann? Wie ich dir erzählt habe, leben wir zur Zeit noch in erbärmlichen Verhältnissen. Ich wollte dich fragen, ob es für mich eine Möglichkeit gäbe, einige Möbelstücke meines Mannes aus Bäringen mit nach „drüben“ zu nehmen.
Kuragin: Genossin, das ist stengstens verboten. Wer dabei ertappt wird, macht sich vor unseren Gesetzen strafbar, denn jeglicher ungenehmigte Transport von Gütern in die Länder des Kapitalismus bedeutet Diebstahl am Eigentum des sozialistischen Volkes und ist somit Verrat am Sozialismus. Daher darf ich dir darin nicht behilflich sein. Aber ich werde dir eine Bescheinigung auf russisch und deutsch anfertigen lassen, die dich von allen eventuellen Belästigungen ausnehmen wird.
Und der Oberkommissar befiehlt dem wachhabenden Soldaten vor der Türe, die Sekretärin aus Zimmer 87, eine Ukrainerin, die wie er russisch und deutsch spricht, herbeizuholen, der er dann folgenden Text in russisch und deutsch diktiert:
Lilia Bröckelberger, verwitwete Dreiling, geborene
Schmidt, geboren am 3. August 1903 in Danzig, ist seit 1919 nachweislich aktives Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands und hat sich um die Verbreitung des Sozialismus verdient gemacht.
Sie war eine treue Gefolgsmännin von Ernst Thälmann und wird im weiteren bestrebt sein, dem Sozialismus auch in den kapitalistischen Staaten zum endgültigen Sieg zu verhelfen. Es wird empfohlen,
ihr jegliche Art von Unterstützung für ihre Arbeit in dem Kampf um den ewigen Weltfrieden zukommen zu lassen.
Nieder mit dem Kapitalismus! Lang lebe der Sozialismus!
Sekretariat der Sowjetischen Militärpolizei in Langensalza
N. Kuragin
Oberkommissar
Und als sich Lilia mit Wahrfried wieder auf dem
Markt der kleinen Kreisstadt befindet und, auf einer Bank sitzend, den Bus erwartet, muss sie die Augen vor Glück schliessen. Der Sekt wirkt noch nach. Sie befindet sich in einer Art
Freudentaumel. Welch ein Glück
habe ich gehabt! Ausgerechnet Nikolai musste ich begegnen. Und diese Bescheinigung mit eigenhändiger Unterschrift eines russischen Offiziers und Stempel ist hierzulande Gold wert. Selbst wenn ich
beim Möbeltransport noch geschnappt werden sollte, dann vermag dieser Brief mir auch noch die Grenzbarrieren zu öffnen.
Wahrfried: Mami, warum hat sich die Verhandlung so lange hingezogen? Ich habe solche Angst gehabt.
Lilia: Der Kommissar und ich haben uns über so viele Dinge unterhalten und dabei auf den Sieg des Sozialismus angestossen. Jetzt kann uns nichts mehr passieren!