Der Bröckelbergersche Teil der Baracke ist etwa zweimal so gross wie der Heitmannsche nebenan und von jenem durch eine stabile, wenn auch hellhörige Querwand abgetrennt. Eine solche halbiert auch den ersten Teil und würde ihn zu zwei vollständig voneinander getrennten Wohneinheiten machen, wenn nicht beider Ausgänge auf eine gemeinsame Aussentüre mündeten. Ausser diesen beiden Querwänden gibt es in der 14,7 Meter langen und sieben Meter breiten Baracke keine anderen Abtrennvorrichtungen als solche, die durch herunterhängende Teppiche und Vorhänge oder auch quergestellte Möbelstücke geschaffen worden sind. Durch die gemeinsame Haupteingangstür kommend, stösst man zur rechten Hand auf eine nach beiden Seiten sich öffnende Pendeltüre, hinter der sich unmittelbar die Küche mit Herd und Spültisch anschliesst, während zur Linken sich eine andere Klapptüre zur nächsten Wohneinheit öffnet, die, wie es in dem Mietvertrag mit der Stadt Meersburg heisst: „Wolf von Trotha und seiner Familie, bestehend aus Genanntem, seiner Frau Monika, geborene von Dreiling, samt Tochter hiermit für ein Jahr als Wohnungsaufenthalt zugesprochen“ wurde. Dies ist jedoch nur der offizielle, rein aktenkundige Sachbestand, denn beide Wohneinheiten werden von ihren darin Lebenden als eine einzige betrachtet, wobei sich im östlichen Teil, rechts also, Küche, Wohnzimmer und, durch Vorhänge und Teppiche markiert, das aus einem Doppelbett nebst Toilettentisch mit Spiegel bestehende Schlafgemach unseres Dichters und seiner Frau befinden, während der Trothasche Teil von der dreieinhalb Meter breiten, sieben Meter langen und deswegen korridorartig wirkenden Werkstatt eingenommen wird, die zur Linken hin ebenfalls mit niederhängenden Teppichen von den beiden übrigen Schlafräumen getrennt ist.
Als man vor anderthalb Jahren hier einzog, dassbot diese einst zuerst von Kriegsgefangenen des Grossdeutschen Reiches, dann aber von jenen der alliierten Mächte bewohnte und darauf für kurze Zeit leerstehende Baracke einen erbärmlichen Anblick. In den Aussenwänden gab es Risse, durch die man Briefe schieben konnte, das Dach war so schadhaft, dass man ein ganzes Jahr lang - bis endlich wieder Teer und Dachpappe besorgt werden konnten - bei jedem Regenguss Dutzende von Büchsen oder auch in einigen Fällen Schüsseln und Eimer aufstellen musste, um die durchdringenden Tropfen abzufangen, bevor sie den teilweise schon durchmorschten Planken des Fussbodens weitere Nahrung zur Fäulnis geben konnten, ja, und dann waren alle Fensterscheiben zertrümmert, und dass die Glasfabriken entweder selbst zerstört oder enteignet waren und dasskein Rohmaterial ZU beschaffen war oder auch einfach der grossen Nachfrage wegen nicht allen Bestellungen nachgekommen werden konnte, gab es auch keinen Ersatz, es sei denn, man zeigte sich erfinderisch und bastelte Scheiben aus lichtdurchlässigem, in Öl getränktem Papier, wo nicht, musste man sich mit einfachen Pappen aushelfen. Aber Lilia entschied sich sofort für die Unterzeichnung des alljährlich zu erneuernden Mietvertrages und entfernte noch am gleichen Tag mit Wahrfrieds Unterstützung die menschlichen Ausscheidungen, die eingetrocknet in mancher Ecke zu sehen waren, und wies ihren „ohrenabständigen“ Schwiegersohn an, die Ritzen in den Wänden vorläufig notdürftig zu verstopfen, während sie sich aus der Nebenbaracke einen mit heissem Wasser gefüllten Eimer besorgte, um mit dem Schrubber die angefaulten Dielen zu reinigen, auf die noch am selben Abend das erste Zubehör zu stehen kam, das Molar auf einem gemieteten Handwagen mit Hermanns Hilfe herbeigezogen oder -geschoben hatte. Öllampen und Kerzen ersetzten in den ersten Monaten das noch fehlende, aber - wie versprochen - bald zu installierende elektrische Licht, und Wasser musste aus dem Bach in der Schlucht geholt werden, dass die Leitung in der mittleren der „breiten“ Baracke vorläufig nicht zu benutzen war.
Lilia, die das wertvolle Talent hatte, ihre beträchtlichen künstlerischen Fähigkeiten mit ihren ebenfalls ausserordentlichen praktischen zu verbinden - ihr Motto war: aus Dreck mach’ ich Gold , bekam eines Tages bei der Enthüllung eines Maiskolbens aus seiner „Schale“ die ungewöhnliche Idee, jene Bastblätter zu stabilen Zöpfen zu flechten und daraus Schuhe zu fertigen. Das somit erstellte erste Paar Schuh erwies sich ihr, die sie es selbst ausprobierte, als durchaus „gangbar“ und dazu als angenehm und geschmeidig zu tragen. Sie erwirkte einen Gewerbeschein für die Herstellung von „Hausschuhen“, beauftragte Wolf, im Bodenseegebiet nach den wenigen Maisfeldern Ausschau zu halten und mit dem jeweiligen Besitzer über die Abholung der für sie wertlosen Bastblätter eine *Verabredung zu treffen. *Diese wurden in Säcken mit dem Handwagen herbeigeschafft und auf dem Dachboden der mittleren der drei Baracken verstaut, dass diese allein einen solchen besass.
Frau Loderer, deren Tochter Erika und die Molar-Schwester Heidrun waren die ersten, die Mitte des vorigen Jahres bei ihr mit der Produktion der Schuhe begonnen hatten, welche zum Erstaunen der dem Unternehmen erst argwöhnisch und abratend Gegenüberstehenden an die ersten Nachkriegstouristen unten am Hafen verkauft wurden. Im Juli kamen noch als weitere Angestellte hinzu: Rosa Reinwald, eine alleinstehende Berlinerin von dreissig Jahren, und die schielende Frau Katzenbach, eine bucklige und mit Warzen auf Nase und Kinn versehene Endfünfzigerin, eine Einheimische, die jedoch aus leicht erkennbaren Gründen als Mitarbeiterin in einem ortsansässigen Betrieb nicht eingestellt werden konnte, zumal man von ihr munkelte oder auch bloss argwöhnte: Die ist eine Hexe. Sie hat ihre Wohnung voller Katzen - sie besitzt wirklich, wie ich mich überzeugen konnte, drei davon -, soll auch die Karten legen und anderen Leuten die Zukunft voraussagen. Natürlich folgerte man daher: Von der halte dich fern, damit sie über dich keinen Bann ausspricht, der dir Schaden zufügen könnte. Am besten wäre es, wenn sie von hier verschwinden würde. Und wenige dachten sogar: Man hätte sie „mitvergasen“ sollen. Lilia hatte von Frau Katzenbachs Wahrsagekunst gehört, und so begab sie sich mit ihrem ersten Paar Probebastschuhen an den Füssen zu jener, um sich über Erfolg oder Misserfolg ihres geplanten Gewerbes Rat zu holen. Den befragten Karten dieser „Hexe“ zufolge sollte ihr Unternehmen ein guter Erfolg werden, auch wenn familiäre Ereignisse diesem abträglich werden könnten. Lilia, in der Wahrsagung dankbar eine Ermutigung ihrer Pläne sehend und von der Not und dem finanziellen Erleiden der Buckligen hörend, versprach jener in ihrer Euphorie, sie ebenfalls bei der Schuhproduktion einstellen zu wollen, so jene nur zusagte.
So sitzen nun ausser Lilia fünf Frauen verschiedensten Alters über ihre Arbeit gebeugt. Drei von ihnen flechten meterlange Zöpfe aus den hellgelben Bastblättern, während die beiden anderen die um einen hölzernen Schuhleisten zu windenden Baststränge aneinanderzunähen haben, wohingegen die rothaarige Unternehmerin - sie ist die einzige, die zu dieser Zeit in Deutschland ein Bastschuhgewerbe betreibt - sich mit dem Musterentwurf, den Verschönerungen, der Kontrolle und der Berichtigung beschäftigt. Wolf hat die ebenfalls aus Maisbast geflochtenen Sohlen an das leichte Schuhoberwerk zu nähen und sich um die Beschaffung des Rohmaterials zu kümmern, während Wahrfried derjenige ist, der am Nachmittag stundenlang auf jenem Boden der grossen Baracke zu kauern hat, um in einem nie vollwerdenwollenden Korb die verwendbaren Blätter, von den unbrauchbaren getrennt, zu sammeln. Wenn in den Gesprächen der arbeitenden Frauen eine Pause eintritt, so regen sich doch ihre Gedanken weiter.
Erika Loderer: Der Wolf sieht ganz prächtig aus mit seinen blonden Haaren. Die Brille steht ihm auch gut. Nur seine Ohren gefallen mir nicht, sie sind zu abstehend. Er sollte sich die Haare länger wachsen lassen. Für mich scheint er sich nicht zu interessieren. Kein Wunder, wenn man mit so einer attraktiven jungen Frau wie Monika verheiratet ist. Aber was hat er von ihr, wenn sie ihm jetzt weggelaufen ist. Nun, daran ist er selbst schuld. Warum musste er sich mit ihr immer zanken. Letztes Mal, als er sie schlug, ist sie einfach ausgezogen. Ich hätte es auch so gemacht. Seitdem soll Wolf nichts mehr von ihr gehört haben. Das war noch im Herbst. Was sie wohl jetzt macht? Wenn ich so schön wäre wie sie - obwohl ich ja auch nicht ganz ohne Reize bin -, wüsste ich wohl, was ich machte. Ich würde mir einen der französischen Offiziere angeln und jeden Tag Champagner trinken. Na ja, ich habe ja auch jetzt einen französischen Freund, den Jean. Er ist zwar nur ein einfacher Soldat, aber küssen kann der, einfach toll. Am Sonntag nimmt er mich mit nach Überlingen, wo sein Freund Geburtstag feiert. Ich werde Elfi fragen, ob sie mitkommt. Sie sollte sich von ihrem jetzigen Freund trennen und auch einen „cher ami“ haben. Die sind doch viel aufregender und interessanter als die langweiligen Burschen von hier, die immer mit einem schlechten Gewissen herumlaufen müssen aus Furcht, von den Einheimischen mit uns zusammen gesehen zu werden und somit in den Verdacht zu geraten, mit einem Hat-nichts-ist-nichts-Flüchtlingsmädchen anbandeln und sie vielleicht auch noch heiraten zu wollen. Nein, nein, dasssind mir die Franzosen lieber, die haben wenigstens keine Komplexe. Ich verstehe zwar nicht, was sie rnir alles erzählen, aber lustig sind sie und...
Hier wird ihr Gedankengewebe unterbrochen, denn ihre Mutter fragt sie nach der Uhrzeit.
Frau Loderer: Tja, dann werde ich gleich rübergehen und Irmgard holen. Sie muss sich ja jeden Morgen bei ihrer Stiefmutter vorstellen, und Lilia besteht darauf, dass sie ordentlich gekleidet und frisiert ist. Ich bin ja so froh, dass sie bei mir wohnen darf. Sie erinnert mich so sehr an meine dritte Tochter, die noch bevor sie zur Schule gehen sollte plötzlich im Eis einkrachte und ertrank. 0, nur nicht wieder daran denken. Ja, ich will nur noch diesen letzten Meter zu Ende flechten. Lilia zahlt ja gut. Denn man erhält zehn Pfennig für den geflochtenen Meter, und wenn man fleissig ist, kann man sogar bei ihr mehr Geld als sonstwo verdienen. Ja, geschickt ist sie, das muss man ihr lassen. Sie kommt aus Ostpreussen, spricht aber ein akzentfreies Hochdeutsch, während ich mit meinem Schlesisch... na ja, sie ist ja auch reich gewesen und hat eine gute Erziehung gehabt. Kein Wunder. So, ich werde jetzt mal Irmgard holen gehen.
Heidrun Heitmann: Irmgard ist wenigstens bei Loderers in guten Händen. Gut, dass sie nicht bei Lilia wohnt, sonst würde sie vielleicht von Wolf ebenso verhauen werden wie seine eigene Tochter. Lässt er eigentlich an ihr seine Wut über Monika aus? Ja, er ist ein roher Mensch. Er muss Freude daran haben, andern weh zu tun. Aber er war ja ein Offizier, und, wie mir Lilia heimlich anvertraute, war er auch einmal beim Führer in der Wolfsschanze. Aber ich darf, wie sie mir sagte, nie mit irgend jemandem, auch nicht mit ihm, darüber sprechen. Ja, wie sehr habe ich unseren „Führer“ bewundert. Er hat uns doch alle aus dem Dreck der Inflation, der Arbeitslosigkeit, der Anarchie und des Hungers gezogen und uns vor der Bedrohung unseres deutschtums durch die internationale Kommunistenbewegung bewahren wollen. Jetzt sieht man ja, dass er recht gehabt hat, denn die Kommunisten erwiesen sich schlimmer als die Mongolen und Tartaren. Er hat diese Gefahr richtig erkannt, was die Engländer und Amerikaner erst allmählich begreifen wollen. Nun ist es zu spät, diese Gefahr noch zu bannen. Na, denen wird es auch noch „dreckig gehen“, und dann werden sie bedauern, dass sie sich gegen unseren „Führer“ verbündet haben. Ja, gönnen würde ich es ihnen schon, wenn der Russe auch einmal ihre Länder einnehmen würde und wenn es nur für ein Jahr wäre. Dann könnten sie sehen, wie der „Iwan“ wirklich ist.
„Frau Heitmann“, so hört sie jetzt halblaut ihre Nachbarin Rosa Reinwald sagen, „darf ich fragen, an was Sie jetzt denken?“
Heidrun: Ach, es war nichts Vemünftiges. Wissen Sie, ich denke noch oft an früher zurück, als wir es noch besser als heute hatten. Nur vorsichtig sein, nichts „ausplappem“, sonst wirst du gleich als „Nazischwein“ betrachtet.
Rosa: Ja, auch ich hatte es einmal besser. Sie werden es nicht glauben, aber ich war einmal Leiterin einer Abteilung in einer grossen Filzpantoffelwerkstatt.
Heidrun: War das ein Familienbetrieb?
Rosa: Nein, ich war nur „eingestellt“.
Heidrun: Warum sagt sie „eingestellt“ und nicht „angestellt“? Wer hatte Sie denn „eingestellt“?
Rosa: Nun ja, der Staat. Partei darf ich ja nicht sagen, sonst bin ich gleich als „Nazihure“ verschrien!
Heidrun: Ach, dann war sie wohl in der Partei wie ich. Das ist ja interessant. Trugen Sie damals eine Uniform?
Rosa: Ich darf nicht zuviel verraten. Aber ich glaube, zu ihr darf ich Vertrauen haben. Ja, aber bitte sagen Sie niemandem etwas davon. Sprechen wir lieber noch leiser darüber.
Heidrun: Ja, dasshaben Sie recht. Besser ist es, wir reden jetzt nicht weiter darüber und Sie kommen in der Mittagspause auf eine Tasse Pfefferminztee zu mir herüber.
Ihnen gegenüber sitzt die schielende Frau Katzenbach, die versucht, ein wenig von ihrer Unterhaltung mitzubekommen. Was diese beiden wohl zu tuscheln haben. Mit mir spricht kaum eine von ihnen. Lilia ist die einzige, mit der ich mich unterhalten kann. Was sagte Rosa, sie sei „Leiterin“ gewesen? Das klingt mir doch verdächtig. Sie ist doch gerade erst etwa dreissig. Ich werde einmal heute meine Karten über sie befragen müssen. Ich bin gespannt, was sie mir sagen werden. Ja, heute morgen legte ich noch die Karten, bevor ich mich aus meinem Haus aufmachte. Ich wollte doch wissen, ob Lilia wirklich erst, wie sie vorgibt, Mitte vierzig ist. Ja, ich wusste es doch, dass sie lügt. Meine Karten sagten, dass sie schon in den Fünfzigern ist. Ja, was diese Flüchtlinge so zusammenlügen. Wahrscheinlich hat sie ihrem Mann auch weisgemacht, dass sie nur wenige Jahre älter sei als er, denn hätte sie ihr wahres Alter genannt, würde er sie vielleicht nicht geheiratet haben. Ja, der Herr Doktor ist ein lieber Mensch. Der glaubt einem alles. Der misstraut keinem Menschen. Er ist eigentlich noch ganz kindlich, was sein Vertrauen zu anderen Menschen angeht. Er hat mir sogar ein Gedicht gewidmet, das mit den Zeilen endet: „Denn über allem stehet die Ewige Liebe“. Ja, die Liebe der Menschen zueinander habe ich aufs bitterste in meinem Leben auskosten können. Wollen wir hoffen, dass der Herr Doktor mit seinem Gedicht recht hat. Ihm wünsche ich auf jeden Fall alles Gute in seinem Leben. Das ist ein wahrer Mensch. Er denkt selbst an solche wie mich. Bald bekommt meine Katja Junge, dasssollte ich seinen Kindern ein Kätzchen mitbringen, damit sie jemanden haben, der ihre Liebe auch dankbar annimmt. Ja, was wäre ich ohne meine Katzen? Wie komisch, dass ich auch noch „Katzenbach“ heissen muss. ist das wohl ein Zufall? Ach, dasskommt ja die Kleine. Vier Jahre ist sie alt. Wie niedlich sie aussieht mit ihren blonden Zöpfchen. Ach, wenn ich je so ein Mädel hätte zur Welt bringen dürfen, wie würde ich mich gefreut haben. Aber ich habe es ja lernen müssen, in diesem Leben ohne viele Wünsche oder gar deren Erfüllung auszukommen.
Irmgard geht auf Lilia zu, der sie einen Kuss auf die dargebotene Wange drückt und dann ein „Guten Morgen, liebe Mami“ sagt. Frau Loderer steht hinter ihr und beobachtet diese tägliche Vorstellung, auf der Lilia so beharrt: Bestimmt hat sie gleich wieder etwas zu beanstanden. Und wie vermutet, hört sie sogleich der Rothaarigen Stimme: ja, deine Schuhe sollten besser geputzt sein, und ein Knopf ist an deinem Jäckchen auch ganz lose. Pass auf, dass du ihn nicht verlierst, denn selbst Knöpfe sind in unserer Zeit wertvoll. Sage mir doch einmal, liebe Irmgard, liebst du mich sehr?“ Ja, liebe Mami“, ist die verlegene, aber schon stereotype Antwort. „Nun ja, das höre ich gerne. ich bin doch jetzt deine einzige Mami, auch wenn du bei Loderers wohnst. Aber wenn es dir dort nicht mehr gefällt, darfst du gleich zu uns zurückkommen und bei deiner Freundin Helga schlafen. Hast du verstanden?“ „Ja, liebe Mami.“ „So, und jetzt hole Helga aus ihrem Zimmer, und geht ein wenig spielen.“ Irmgard darf nie vergessen, dass ich ihre Mami bin. Es ist gut, dass sie jeden Tag zu mir kommt. Ich bin ja froh, dass Loderers sie vorläufig erst einmal zu sich genommen haben, denn hier ist es zu eng, und Helgas tägliches Geplärr reicht mir. Ich muss Hans Winfried wieder einmal mit Bastschuhen auf Reisen schicken. Aber er nützt es dann immer aus, von mir möglichst lange wegzubleiben.’ Pflegt er vielleicht noch andere Liebschaften? Ich hoffe nicht, dass er mit anderen Frauen bei sich anbietenden Gelegenheiten ins Bett steigt. Aber möglich wäre es schon, sieht er doch noch sehr jung aus und ist bei allen Kräften. Ja, auch wenn er vollkommen unpraktisch ist, in der Liebe wenigstens ist er ein Gedicht... Wir brauchen wieder Geld. Wie soll ich meine Arbeiterinnen bezahlen? Ich hätte vielleicht doch noch nicht im Januar mit der Produktion wieder anfangen sollen. Doch letzten Juli und August hatten wir sehr gut verkauft. Aber dann waren die Touristen wieder abgereist. Ja, das war richtig, dass ich vom September bis zum Jahresanfang die Schuhherstellung einstellte. Jetzt haben wir genug Zeit, um einen grösseren Vorrat für den kommenden Sommer anzulegen. Aber knapp wird es werden mit dem Geld. Denn der Bast, die Leisten, der Faden, die Nadeln, alles muss sofort bezahlt werden, von den Löhnen ganz abgesehen. Ja, Hans Winfried muss bald wieder auf eine Verkaufsfahrt gehen. Dichten kann er ja immer noch, wenn er wieder hier ist.