Zu Beginn der letzten Märzwoche finden wir uns an einem Nachmittag wieder in der Barackenbastschuhwerkstatt ein. Der Kreis der arbeitenden Frauen ist gerundet, jedoch die “Lücke” noch nicht wieder aufgefüllt. Wolf arbeitet hinter der Baracke im Garten. Wahrfried hockt auf dem Dachboden nebenan, Hermann sucht hinter der Schlucht nach Holz, und Edelgard wäscht ab. Anscheinend ist es kein besonderer Tag, an welchem wir in das vorfrühlingshafte Sommertal zurückkehren. Aber, dasswir schon das Kommende vorauswissen, haben wir für das heutige Stelldichein unsere triftigen Gründe.
Ich möchte aber darauf hinweisen, dass diesmal wie auch öfter schon das “wir” sich nur auf dich bezieht.
Lilia: Heute kam doch Edelgard nach der Schule zu mir und fragte mich, was ein Spitzel sei. Ich war gleich hellhörig und hatte meine bösen Ahnungen. Als ich weiter in sie drang, stellte sich heraus, dass die Heitmannskinder sie beschimpften, sie hätte ja nur eine “falsche” Mutter, die darüber hinaus auch noch eine “Spitzelmutter” sei. Na, dasshört doch aber alles auf! Jetzt pfeifen es wohl bald die Vögel von allen Meersburger Dächern, dass ich ein Spitzel bin. So eine gemeine Lüge! Das hat dieses Biest von nebenan mir eingebrockt. Natürlich habe ich meinen Kindern gleich verboten, mit der Brut einer “Nazihexe” überhaupt zu sprechen, geschweige denn zusammen zu gehen.
Frau Katzenbach: Liebe Frau Doktor! Wäre es nicht schön, wenn Sie sich mit Ihrer Frau Schwägerin wieder vertragen würden? Ausserdem ist sie eine fleissige Arbeiterin.
Lilia: Frau Heitmann ist ein Nazischwein. Die können wir hier nicht gebrauchen.
Rosa: Aber ich bitte Sie! Wie können Sie so etwas sagen? Ich möchte es mir im Namen meiner Freundin verbeten haben.
Lilia: Sie sind wohl auch so ein “braunes” Gespenst wie die dassdrüben? Oder gibt es etwa für Ihr Zusammenleben noch andere Gründe, von denen man munkelt?
Rosa: Was munkelt man?
Lilia: Nun, jeder weiss doch, dass Sie beide unter einer Decke stecken und...
Rosa: Und was?
Lilia: Und zusammen schlafen.
Rosa erhebt sich erschrocken, empört, wütend und jetzt herausplatzend: Das ist eine infame Lüge! Das haben Sie sich mit Ihren schweinischen Gedanken nur ausgedacht! Das werde ich Heidrun erzählen! Na warten Sie!
Barackenwände haben Ohren. In der Küche haben sich
zu Edelgard ihre Schwester Irmgard und deren Freundin Helga gesellt. Aber auch auf der anderen Seite der Werkstatt haben Heidrun und ihre Kinder die Androhungen Rosas vernommen, die zornentbrannt
soeben zu Heidrun durch die Türe hereinkommt: “Hast du das gehört, was das Weibsstück von nebenan über uns behauptet?”
Heidrun: Was?
Rosa: Wir seien lesbische Schwestern und ganz Meersburg munkele bereits darüber.
Heidrun: Was? Dieses Mistvieh wagt zu behaupten , dass wir ... ? Unerhört! Das lassen wir nicht auf uns sitzen! Komm, wir gehen sofort hinüber!
Hass ist wie eine Flamme, die jedes brennbare
Material sofort mit Gier verschlingt. Wehe, wenn man das Feuer nicht rechtzeitig wieder löschen kann. Aber zu diesem Thema darf ich dich auf eine Erzählung des russischen Weltweisen verweisen. ...? Tolstoi. Hass kann uns in einen tiefen Abgrund stürzen, und es wird einmal der in Finsternissen schreienden Seele abertausend Mühen kosten, aus dieser Schlucht wieder nach oben an
das Licht zu gelangen.
Doch jetzt stehen sich die beiden Schwägerinnen gegenüber.
Heidrun: Was hast du Drecksau erlogen? Wir seien Lesbierinnen? Nimm das sofort wieder zurück!
Lilia: Wieso? Das weiss doch jeder! Und auch, dass ihr zwei Naziflittchen wart! Und jetzt verschwindet! Hinaus mit euch Pack!
Heidrun: Du Hurenmutter musst gerade deinen Mund aufreissen. (Heidrun spuckt ihr ins Gesicht.) Pfui! Ich verachte dich, du verlogenes Spitzelschwein!
Lilia schnallt, ausser sich vor Wut, ihren Gürtel ab: *green Der werd’ ich es zeigen!
Als sie mit dem Lederriemen ausholen will, wird dieser von Rosa festgehalten, während Heidrun ihrer Gegnerin zwei Ohrfeigen verpasst, worauf diese mit ihrer linken Hand jener in die Haare greift und ihr das Knie in den Bauch stösst.
In der Küche hinter den beiden Pendeltüren halten sich jetzt Irmgard und Helga umklammert. Letzterer Höschen wird gerade nass. Und Edelgard gleitet ein wertvoller Glasteller, in tausend Kristalle zerspringend, aus der Hand, während die zwei Heidrunkinder in ihrem Barackenteil an der Wand stehen und lauschen, Eckard jedoch jetzt zu weinen beginnt und laut “Mutti! Mutti!” ruft. Allen Wandlauschern zittern die Knie. Sie haben Angst, dass irgend etwas noch Schrecklicheres passieren könnte.
In der Werkstatt selbst hat sich als erste Erika Loderer wieder gefangen. Sie stösst nun das Fenster zur Hinterseite auf und ruft dem im Garten beschäftigten Wolf zu: “Kommen Sie ganz schnell! Es brennt!”
Und eine halbe Minute später erreicht jener den Kampfplatz, wo seine Schwiegermutter nun am Boden liegt und Heidrun auf diese mit ihren Fäusten eindrischt.
Lilia: Wolf! Hilf mir! Schmeiss sie raus!
Heidrun: Du Lügnerin! Du Teufelin!
Wolf: Sofort aufhören! Auseinander! Heidrun, hörst du nicht? Lass los!!
Rosa: Mischen Sie sich doch nicht ein! Ihre Schwiegermutter bekommt jetzt nur, was sie schon längst verdient hat.
Wolf greift Heidrun in die Haare und zieht die Wehschreiende von ihrem Opfer herunter, worauf Rosa ihm in den Arm fällt und laut vernehmlich zu ihm sagt: “Lassen Sie sofort los! Wir sind hier nicht bei einer Sonderbehandlungsaktion, Herr Sägerlein!”
Der Angeredete, wir sollten sagen, der “Angefauchte”, zieht sofort seine Hand aus dem Medusenhaar.
Wolf: Um Gottes willen! Was weiss die über mich? Wird sie jetzt auspacken (alles offenbaren)? Was soll ich sagen? Natürlich. Ableugnen!
Lilia, sich wieder aufrichtend: Das darf doch nicht wahr sein. Die beiden kennen Wolfs Geheimnis? Ich bin doch ausser meiner Tochter die einzige, die davon weiss.
Wolf: Sie müssen mich verwechseln. Ich bin Wolf von Trotha.
Rosa: Machen Sie sich keine Mühe abzuleugnen. Ich irre mich nicht. Ich kenne meine Leberfleckmänner mit oder ohne Adel. Komm Heidrun! Wir gehen! Ausserdem, wie es sich wohl von selbst versteht, habe ich hiermit meinen Dienst bei Ihnen gekündigt!