Und hilf ihr Los sie tragen

Molar hatte schon seit einiger Zeit an einem Kindergebet gedichtet. Letzte Nacht schien es ihm so weit zu seiner Zufriedenheit gelungen zu sein, dass er es heute abend den Kindern auf ihren Matratzen beizubringen gedenkt. Somit setzt er sich auf eines der niedrigen Bodenbettlager und beginnt folgendermassen: „Ihr, meine Lieben, wisst ja schon, dass ich morgen für ein paar Tage wegfahre.“

 

Edelgard: Warum musst du immer wieder wegfahren?

 

Molar: Ich muss Schuhe verkaufen, damit wir Geld haben und davon uns zu Essen kaufen können. Aber ich komme ja schon bald wieder.

 

Edelgard: Gehst du unsere Mutti besuchen?

 

Molar: Aber liebe Edelgard! Mutti ist doch jetzt im Himmel.

 

Wahrfried: Ja, Mutti ist jetzt ein Engel und wohnt im Himmel. Aber vielleicht ist sie im Augenblick hier.

 

Molar: Nun, ich habe ein kleines Gebet für euch geschrieben. Ich will es euch nun einmal Zeile für Zeile vorlesen, und ihr sprecht sie alsgleich nach.

 

Und es tönt die gewaltige Stimme unseres der Dichtung ergebenen Worteheischers, und seine drei Kinder wiederholen mit erst zaghafter, doch dann immer mutiger werdender Stimme die an Gott gerichteten Verse.

 

KINDERGEBET

 

DU LIEBER GOTT
HAST MICH SO REICH GEMACHT
IN DEINEN SCHÖNEN SONNENSTUNDEN,
BESCHÜTZ MICH AUCH IN DIESER NACHT
MIT DEINER RIESENGROSSEN MACHT,
dassICH ZU DIR GEFUNDEN.

DANK DIR, DU LIEBER GOTT!

UNS KINDER ALL
LASS RECHT GEDEIH’N
IN UNSERN ERDENTAGEN,
SCHLIESS VATER MIR
UND MUTTER MEIN
AUCH IN DEIN GROSSES HERZE EIN,
UND HILF IHR LOS SIE tr AGEN.

DU LIEBER GOTT
BLEIB IMMER NAH!
SEIT IN MEIN AUG’
DAS DEINE SAH,
SOLL’S AUCH SO REIN ERStr AHLEN!

 

Und während vier Stimmen dröhnen, lauschen nebenan hinter der dünnen Trennwand acht „gottgläubige“ Ohren, was wohl ihre „evangelischen“ Verwandten so Wichtiges miteinander im Chor zu lernen haben.

 

Und Wahrfried fragt, was „gedeihn“ bedeute, und Edel will den Sinn von „Macht“ wissen. Und als sich nach der Wiederholung das Gebet in den Kinderköpfen - wenn auch noch lückenhaft - niederzusetzen gewillt zu sein scheint, fragt Hermann den schon an seine morgige Abberufung denkenden Gedichtevater: „Was ist „Los“?“

 

Molar: Das Los ist etwas, was uns durch das Schicksal zugeteilt ist.

 

Edelgard: Was ist „Schicksal“?

 

Molar: Schicksal ist das Verhängnis, das uns im Leben erwartet.

 

Wahrfried: Was ist „Verhängnis?“

 

Molar: 0 Kinder! Werdet zuerst einmal gross, dann könnt ihr alles verstehen.

 

Wahrfried: Wirklich  a l l e s ? Onkel Dörr hat mir doch gesagt, dass wir Menschen nur ein ganz kleines bisschen von der grossen Wahrheit auf Erden erfahren können.

 

Molar: Was der Verstand begreifen kann...

 

Edelgard: Was ist „Verstand“?

 

Molar: Lass Papi bitte doch erst einmal ausreden. Was der Kopf begreifen kann, das kann er auch als Wahrheit annehmen.

 

Edelgard: Was ist Wahrheit?

 

Molar: Kinder! Jetzt wird geschlafen!

 

Und der Wortewahrheitsheischer beugt sich zu seinen drei Sprösslingen nieder, und jeder drückt ihm einen kleinen Schmatzer auf die dargebotene Wange und sagt ein „Gute-Nacht-lieber-Papi!“, bevor der Vierkindervater durch den als Nottür fungierenden Teppich „hindurchschlüpft“ und das Licht ausschaltet. Nun begibt er sich zurück in seinen beleuchteten Barackenteil, wo Lilia mit sorgenvoller Miene vor sich „hinbrütet“ und auf die Rückkehr ihres geliebten, doch schon morgen sich wieder auf Kreuz- und Querfahrt begebenden Mannes wartet.