Die zittern jetzt alle

Am folgenden Tag hat Herr Becker seinen älteren Kollegen grosszügig vom Dienst befreit, damit jener sich seinem „überraschenden Besuch“ widmen könne. Und während die rothaarige Lilia sich am Vormittag dazu entschliesst, sich gemäss Bestimmung bei der Volkspolizei innerhalb von vierundzwanzig Stunden anzumelden (wir erinnern uns: Mir kann ja nichts passieren!), zeigt Opa Bröckelberger dem neugierig fragenden Enkelkind seine grosse Schmetterlings- und Mottensammlung, deren Exemplare in vielen Schaukästen an den Wänden aufgehängt oder in Spezialschränken aufbewahrt sind. Der alte Apotheker besitzt eine der grössten Privatmottensammlungen des viergeteilten Deutschlands, ja, er gilt sogar in der Fachwelt als eine anerkannte Autorität aufgrund seiner exakten Untersuchungen, die es ihm ermöglichten, auf noch unentdeckte Motten zu stossen, denen der glückliche Finder flugs einen lateinischen Namen zumass, hinter welchem in allen neueren wissenschaftlichen Abhandlungen und Fachlexika die beiden ersten Buchstaben seines Nachnamens in Klammern zu finden sind. So erklärt der verdienstvolle Mottenforscher seinem blutsverwandten Schüler den Werdegang eines Schmetterlings von dessen Vorleben als Raupe, dem Zwischenzustand als Puppe bis zum endgültigen, erfüllten Sein als beschwingter Buntflügler. Wahrfried ist fasziniert von dem, was er vernimmt. Er muss an seinen Mentor in Meersburg denken: Das ist ja geradezu ein der Natur eingeprägtes Bild von dem Werdegang der unsterblichen Menschenseele. Ob Opa davon weiss? Glaubst du, lieber Opa, dass auch wir Menschen uns einmal beflügeln werden?

 

Bröckelberger: Wie meinst du das?

 

Wahrfried: Ich meine, ob wir uns nach unserer Einpuppung auch zu einem neuen, luftigeren Leben entfalten werden?

 

Bröckelberger: Das wird schon so sein, lieber Wahrfried. Bei der Betrachtung von Naturvorgängen stösst ein Wissenschaftler immer wieder auf merkwürdige Erscheinungen, welche ihm ein Ahnen von den höheren Ordnungen geben, die in allem walten. Und ich habe aus meinen langjährigen Beobachtungen mit Faltern und mit anderen Tieren und Pflanzen erkannt, dass diese nicht nur in ihrem Verhalten, sondern auch in ihrem Sein Spiegelbilder der menschlichen Seele sind.


„Es ist mir eine grosse Ehre, Frau Genossin, Sie im Rathaus bei uns begrüssen zu dürfen. Ich habe gestern abend von Ihrer Ankunft gehört und wollte mich heute morgen anschicken, Sie selbst in der Lindenapotheke aufzusuchen, obwohl es mir nicht behagt, diese einstige Nazivilla zu betreten.“ Herr Abel, der neue Bürgermeister mit dem Parteiabzeichen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands auf dem Jackenrevers, bittet die Thälmann-Genossin, Platz zu nehmen und beauftragt eine Sekretärin, „echten“ Kaffee zu servieren. „Ich habe mir schon überlegt, Ihnen zu Ehren ein Festbankett im Rathaussaal zu geben.“

 

Lilia: Um Gottes willen, nur das nicht! Das ist sehr nett von Ihnen, Herr Genosse Abel. Aber es entspricht nicht „unseren“  Vorstellungen, hier mit meiner Person Aufsehen zu erregen, ganz im Gegenteil. Ich möchte so wenig wie möglich ins Licht der Öffentlichkeit treten. Ausserdem bin ich „offiziell“ nur hier, um einen Verwandtenbesuch abzustatten und unsere Möbel zu holen.

 

Abel: Darf ich fragen, in welcher Art Sie im Westen für den Sieg des Sozialismus kämpfen?

 

Lilia: Auch das, lieber Genosse, unterliegt, wie Sie sich denken können, strengster Verschwiegenheit. Aber seien Sie versichert, dass ich bereit bin, für den Frieden in der Welt mein Leben zu opfern.

 

Abel: An Ihnen, Frau Genossin, können wir uns alle ein Beispiel nehmen. Ich werde alles Ihrem Wunsche gemäss veranlassen und Ihnen in allem dienlich zu sein versuchen. Kennen Sie schon einen „schwarzen“ Möbeltransporteur („schwarz“ bedeutet hier soviel wie: heimlich über die Grenze fahren)?

 

Lilia: Nein. Will er mir etwa jemanden vermitteln?

 

Abel: Ich will Ihnen eine Eisenacher Adresse aufschreiben, an die Sie sich wenden können.

 

Lilia liest: Das ist ja die gleiche Anschrift, die ich auch schon erhalten habe. Ich danke Ihnen. Vielleicht werde ich mich Ihnen auch irgendwann einmal erkenntlich zeigen können.

 

Abel (rauchend und trinkend): Übrigens, Frau Genossin, was ich noch fragen wollte, wissen Sie eigentlich, in was für eine Familie Sie hineingeheiratet haben?

 

Lilia: Natürlich weiss ich es. Weiss ich es wirklich? Aber Sie verstehen, dass „besondere Aufgaben“ auch besondere Umstände erfordern, um unauffälligst für den Sieg des Sozialismus arbeiten zu können.

 

Abel: Ah so, jetzt beginne ich erst zu verstehen. Dahinter steht also eine aufopfernde Idee? Ich Dummkopf hätte doch gleich darauf kommen müssen, dass eine Frau keinen Witwer mit vier Kindern ehelichen würde, ohne damit nicht einer höheren Absicht nachzukommen. Ja, die Bröckelbergers haben hier im Ort unter den Nazis den Ton angegeben. Ihre Frau Schwiegermutter war Ortsgruppenfrauenschaftsleiterin, und im Garten der Apothekenvilla hat „Er“ sogar persönlich zu Tafel gesessen. Wussten Sie das schon?

 

Lilia: Ja, Frau Heitmann hat es kurz einmal erwähnt.

 

Abel: Die muss froh sein, dass sie noch rechtzeitig abhaute (volkstümlicher Ausdruck für: sich auf- und davonmachen) und somit uns entwischt ist, sonst hätten wir ihr noch „am Zeug geflickt“ (das heisst: ihr dabei wohl auch kräftig mit der Nadel ins Fleisch gestochen). Leider war die alte Bröckelberger zu krank, um ihr noch eine gerechte Bestrafung zukommen zu lassen. Meine Familie wurde damals wegen ihres „verdächtigen“ Namens von unseren „freundlichen“ Bäringer Mitbürgern gemieden, obwohl unser Ahnenpass keine jüdischen „Rassenschänder“ aufzuweisen vermochte. Der Fleischer und der Bäcker wollten uns keine Waren mehr aushändigen, und die Kinder riefen mir Schimpfnamen nach wie „Judenlümmel“ und „Sechsernase“. Aber jetzt wagt es hier im Ort keiner mehr, mich noch so zu nennen. Die habe ich das Fürchten gelehrt. Die zittern jetzt alle. Der ausgleichenden Gerechtigkeit kann sich keiner entziehen.