Die Warheit liegt in uns

Zur selben Dämmerstunde, als unser Hahnenhäscher in Lindau eintrifft, geht der blinde Herr Dörr in seiner Barackenstube auf und ab. Ja, unser Bürgermeister Netzscher hat viele Sorgen, wie mir der Vikar mitteilte. Die Stadt verfügt im Sommer nicht über ausreichend Fremdenzimmer für die Touristen. Von den etwa zweitausend Wohnräumen haben die Franzosen für ihre Familien zweihundertfünfzig beschlagnahmt, und die Ausgewiesenen mussten teilweise in den Hotels oder Pensionen Platz finden. Sechshundert Räume werden aber von Flüchtlingen bezogen, so dass für unsere Feriengäste praktisch kein Platz vorhanden ist. Das trifft natürlich unsere lieben Meersburger Bürger ganz besonders schlimm, dassein Grossteil ja von der Touristik zu leben pflegte. Nun, die Städträte zerbrechen sich den Kopf, wie der Fremdenverkehr zu steigern sei, und wir Flüchtlinge grübeln gar oft darüber, wie wir die nächsten Tage überleben könnten. Es hat geklopft. Ja, herein!! ... Ach, du bist es, mein Lieber. Komm herein!

 

Wahrfried: Guten Abend, Onkel Dörr! Ich komme, um dir zu sagen, dass meine Mami mit mir in den nächsten Tagen nach Thüringen reisen will, um unsere Möbel zu holen.

 

Dörr: Ja, ich entsinne mich. Davon war schon im letzten Jahr die Rede.

 

Wahrfried: Wir müssen nur noch die Rückkehr meines Papis abwarten, dann wollen wir gleich aufbrechen. Papi soll mit Schuldirektor Brummer sprechen, damit ich für zwei bis drei Wochen beurlaubt werde.

 

Dörr: Ich kann mir denken, dass du froh bist, drei Wochen lang vom Unterricht befreit sein zu dürfen.

 

Wahrfried: Du hast mir, lieber Onkel, doch neulich erzählt, dass vieles vorhanden ist, das wir jedoch nicht sehen können. Wie ist das möglich?

 

Dörr: Wie viele Farben hat der Regenbogen?

 

Wahrfried: Fünf.

 

Dörr: Ursprünglich ja, aber es sind nun sieben geworden, nämlich Violett, Blau, Hellblau, Grün, Gelb, Orange und Rot. Aber es gibt darüber hinaus noch viele Farben, die wir auf unserer Erde gar nicht kennen. Wir können nur die Farben und deren tausendfache Vermischungen sehen, die der Regenbogen in sich birgt. Er zeigt uns im eigentlichen Sinne die Grenzen unserer Wahrnehmungsmöglichkeiten, wobei Rot in ihm die oberste und Violett die unterste der sieben Farben ist, während es sich im doppelten Regenbogen genau andersherum verhält. Alles, was wir sehen können, beruht auf einer bestimmten Anzahl von Schwingungen, die sich in einer Sekunde so häufig hin- und herbewegen, dass selbst alle Blätter dieses Waldes zusammengezählt noch bei weitem nicht ausreichen würden, diese Zahl zu erreichen. Sagen wir einmal, dass Violett so viele Schwingungen besitzt wie die Anzahl aller Baumblätter des Bodenseeraumes und Rot die Anzahl allein der Buchenblätter des gleichen Gebietes. Alles das, was zwischen diesen beiden Zahlengrössen schwingt, können wir sehen oder sogar anfassen. Aber es gibt andere Farben und Dinge, die eine viel, viel grössere oder auch niedrigere Schwingungszahl haben als die zwischen Rot und Violett. Diese vermögen wir also nicht zu sehen. Ich möchte dir der Anschauung halber ein Beispiel geben. Denke an die Speichen eines Fahrrades. Wenn dessen Räder stillestehen oder sich nur sehr langsam drehen, kannst du sie sehen. Bewegen sie sich jedoch sehr schnell, dann wird es dir unmöglich sein, die einzelnen Speichen zu erkennen, und man müsste, wenn man sich nur auf seine Augen verlassen wollte, denken, dass die Räder gar keine Speichen mehr hätten. Und doch sind sie da. Ebenso verhält es sich mit allen Gegenständen und deren Schwingungen. Aber es gibt viele Welten, die sich auf einer höheren Schwingung als der unsrigen befinden und in denen deren Bewohner genauso ihre Umgebung als Wirklichkeit auffassen, wie wir es tun. Und einigen von diesen uns manchmal Besuchenden, seien es Geister oder Sternenbewohner, ist es gelungen, ihre hohen Schwingungen zu verringern, damit sie uns sehen können, und in manchen Fällen sind wir dann sogar in der Lage, sie zu sehen. Also, bildlich gesprochen, ist ihr Rad mit den Speichen so langsam geworden, dass wir diese wieder erblicken können. Wollen sich aber diese ausserirdischen Besucher wieder unseren Blicken entziehen, so beschleunigen sie einfach wieder ihre Schwingungen. Du kennst doch bestimmt in dem Lied „Der Mond ist aufgegangen“ jene Strophe, wo es von dem nur halb zu sehenden Mond heisst: „und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.“

 

Wahrfried: Ja, dieses Lied hat mir immer sehr gefallen.

 

Dörr: Nun, was wir als Menschen mit unseren fünf Sinnen (es sollen noch sieben werden) wahrnehmen können, ist nur ein ganz kleiner Ausschnitt aus der in und um uns lebenden Schöpfung Gottes. Dies dürfen wir bei aller Betrachtung der Naturerscheinungen, ja, auch bei allem Denken und Handeln nie vergessen. Wir sind praktisch Kurzsichtige. Und selbst, wenn es gelingt, uns mit Hilfe der Technik eine Brille aufzusetzen, so sehen wir mit dieser wohl ein ganzes Stück weiter, aber gemessen an der Unendlichkeit der Schöpfung bleiben wir trotz Brille kurzsichtig. Und das hat bestimmt seinen Grund. Vielleicht werden wir eines Tages unsere Blicke nach innen zu lenken lernen und hinein in unsere Seele schauen, um zu entdecken, dass wir dort mit unseren inneren Augen so weit sehen können, wie wir uns nur immer getrauen, ja, dass wir schliesslich erkennen, dass die Beantwortung der vielen Rätsel des Lebens nicht in der Welt der materiellen Erscheinungen, also aussen, zu finden ist, sondern in der eigenen Seele. Ja, die Wahrheit liegt in uns. Und je tiefer wir in uns hineinzusehen vermögen, desto mehr wird uns von der unendlichen Wahrheit enthüllt werden.

 

Wahrfried sitzt mit staunenden Sinnen. Es ist ihm alles so ungeheuerlich, so wunderbar und doch so ganz begreiflich. Wie sehr liebt er diesen blicklosen Alten, der ihm alles so anschaulich zu schildern vermag.