Die Volksverräterin

Wir wollen uns in unserer Vorstellung wieder nach Thüringen in jenes Dorf, etwa drei Wegstunden nördlich vom Venusberg gelegen, begeben. Dort beobachten wir soeben den immer gütigwissend lächelnden Grossvater Bröckelberger, wie er seinem zweiten Enkel die bescheidene Briefmarkensammlung zeigt, die er einst als Schüler begonnen, aber beim Auflodern seiner Schmetterlingsleidenschaft wieder vernachlässigt hatte, bis seine Frau sich für alle „Führerbilder“ einschliesslich derjenigen auf den Briefmarken lebhaft interessierte und ihn zur Fortsetzung seiner früheren Leidenschaft anstachelte. Wahrfried besieht sich die schönen Marken des „Dritten Reiches“ und liest ihre Aufschriften: „Die Saar kehrt heim“, „Olympische Spiele 1936“, „Winterhilfswerk“, „Wer ein Volk retten will, kann nur heroisch denken!“

 

Wahrfried: Was soll das heissen, lieber Opa?

 

Bröckelberger: Heroisch bedeutet soviel wie „heldenhaft“. Hitler betrachtete sich als ein vom Schicksal dem deutschen Volk zugewiesener Held und Führer, der es zu nie geahnter Grösse in der Welt führen werde. Seine eigene Überzeugung sollte auch durch Spruchbänder und Briefmarkenaufschriften der breiten Masse vermittelt werden. Es war doch nichts als Massensuggestion und Gehirnwäsche. Denn er wollte sich bei allen seinen politischen Entscheidungen, auch wenn sie von den Reichsbürgern und besonders von den ihm verhassten Intellektuellen unter ihnen kritisiert werden sollten, jedes Mitspracherecht verbeten haben, dassja nur er allein heroisch denken konnte und somit kein anderer in der Lage war, das deutsche Volk zu „retten“. Retten? Vor was? Vor Verjudung und Kommunismus? Oder war es vielmehr ein Versuch, Deutschland als Nationalstaat vor seiner Europäisierung und vor seiner endgültigen Einverschmelzung in einen geschichtslosen Weltverbandsstaat nochmals wie in den Zeiten der grossen Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation aufleben zu lassen, ein Versuch also, Vergangenheit zu beschwören und diese mit „heroischen“ Zukunftsideen und bisher nie verwirklichten Idealen zu bestücken? Ja, so zu denken hiess, „Geschichtsbewusstsein“ haben. Und unsere neuen Machthaber, versuchen sie nicht auch, uns Geschichtsbewusstsein zu vermitteln? Und stellten die „braunen“ Geschichtsbücher für die Schulen Heroen wie Theoderich, Karl den Grossen, Barbarossa und Friedrich den Grossen in den Vordergrund, so liest man heute in den „roten“ Schulbüchern über die Bauernkriege, die Französische Revolution, das Kommunistische Manifest, die Oktoberrevolution und über den heldenhaften Kampf der siegreichen Sowjetarmeen gegen das faschistische Deutschland. Mir ist jedenfalls ein Naturbewusstsein tausendmal lieber als jedes Geschichtsbewusstsein, wissen wir doch sowieso nicht, was wirklich „einst“ passierte, während die Naturbetrachtung einem jeden tagtäglich ewig gültige Tatsachen offenbaren kann.


Wahrfried befindet sich am Nachmittag auf dem Wege zu Frau Riemann, die, von seiner Ankunft im Ort vernehmend, ihren Sohn beim alten Apotheker vorbeigeschickt hatte, um dessen Enkel zu Kaffee und Kuchen zu sich zu laden.

 

Wahrfried: Schade, dass ich selbst soviel von meiner Mutter schon wieder vergessen habe. Aber ich weiss noch, wie sie mit Hermann und mir nach der Kornernte auf die Felder ging und wir nach liegengebliebenen Ähren suchten, damit wir etwas zu essen hatten, und wie wir eines Tages vom Felde aus feindliche Flugzeuge kommen sahen, die Brandbomben über dem Nachbardorf abwarfen, so dass der Himmel die ganze Nacht hindurch gerötet war. Wie nahe fühle ich mich meiner Mutter mit jedem Tag. Wenn du heute bei mir bist und mich hören und sehen kannst, so möchte ich dir zurufen: „Ich liebe dich!“

 

Und als er am Rathaus vorbeikommt, entdeckt er an jenem zwei rote Spruchbänder mit weissen Lettern: „Wir arbeiten in einem Neuen Deutschland für den Sieg des Sozialismus in der Welt!“ und „Lang lebe die deutsch-sowjetische Freundschaft!“ Fast alle deutschen in der Sowjetischen Besatzungszone hassen die Russen und ihren Sozialismus, und doch müssen sie öffentlich lügen und von ihrer „Liebe“ und „Freundschaft“ zu dem sowjetischen „Brudervolk“ reden. Wie schlimm ist es, wenn der Staat als Vorbild seiner Bürger selber lügt und sie auffordert, ein Gleiches zu tun. Hoffentlich sind wir bald wieder im Westen. Ich komme mir hier vor wie in einem Gefängnis, in welchem die Ratten herumspringen und die Luft zu stickig ist, aus dessen Mauern man sich aber nicht hinaus ins Freie retten kann, es sei denn, man setze sein Leben daran.


„Guten Tag, Frau Riemann!“ „Guten Tag, Wahrfried! Komm herein und setz dich. Du kannst ruhig ‘du’ und ‘Tante Friedass zu mir sagen, war ich doch deiner Mutter einzige Freundin hier am Ort. Mich wirst du wohl kaum noch in Erinnerung haben, obwohl deine Mutti oft zu uns kam und manchmal alle oder doch eines von euch Kindern mitbrachte. Ach ja, sie war so äusserst lieb und gut und wunderschön.“

 

Wahrfried: 0 bitte, liebe Tante Frieda, erzähle mir mehr über meine liebe Mutti. Ich habe schon so viel wieder vergessen.

 

Frau Riemann: Ja, deine Mutter, lieber Wahrfried, war eine höhere Seele. Sie war ein reiner Engel, wie ich keinen gleichen je kennengelernt habe. In den Zeiten der Hungersnot während des Krieges fertigte sie in aller Heimlichkeit kleine Päckchen mit Brot, Obst und anderem und legte sie bei Dunkelheit auf die Hausschwellen derjenigen, von denen sie vernommen hatte, dass sie hungerten. Denn alle wehrtüchtigen Familienväter und erwachsenen Söhne waren im Krieg, und oft konnte niemand mehr die verwaisten Felder bestellen, es sei denn, es wurden einem arbeitswillige Kriegsgefangene zugeteilt. Ausserdem gab es auch einige Familien, die nicht als rassisch „rein“ empfunden wurden und denen man deswegen kein Brot, Zucker, Mehl oder sonst etwas geben wollte. Deine liebe Mutti hat mich manchmal bei ihren nächtlichen Paketaustragungen mitgenommen, und soviel ich weiss, ist bisher nie herausgefunden worden, von wem diese heimlichen Überraschungen stammten. Doch hatte sie selbst nicht genug zu essen, denn ihre Schwiegermutter wies ihr ein karges Monatsgeld zu, um sie zur „Sparsamkeit“ zu erziehen, obwohl sie die Sparsamkeit selbst war. Jene wollte deine Mutter in allem bevormunden. Sie stand allein mit euch Kindern, denn dein Vater war im Krieg. Deine Grossmutter sah in deiner Mutter eine Art „Volksverräterin“, dass sie nicht „völkisch“ gesinnt war und sich nicht für Hitler und dessen Ideen „erwärmen“ lassen wollte. Deshalb misstraute man auch ihrer Kindererziehung und versuchte, ihr ständig Vorschriften zu machen. In ihrer eigenen Wohnung fühlte sie sich wie in einem Gefängnis. Ja, für sie, die aus einer deutschen Stadt kam, in der sie viel gelacht hatte, denn sie hatte eine sehr fröhliche Natur, wurde Bäringen zu einer sibirischen Verbannung. Deine kürzlich verstorbene Grossmutter hat ihr das Leben zur Hölle gemacht. Sie verbat ihr zum Beispiel, euch taufen zu lassen unter Androhung, sie ansonsten aus der Apotheke auszuweisen. Die Taufe war allen echten „Nazis“ ein Greuel, denn es bedeutete, einen persönlichen Pakt für ein Leben mit der Kirche zu besiegeln. Sie wurde als Verrat am Führer angesehen, dem allein man sich nur ergeben durfte. Ausserdem liess sich die christliche Taufe nicht mit dem künstlich wiedererweckten altgermanischen Glauben von Blut und Boden vereinbaren. Ja, deine liebe Mutti und ich sassen oft beisammen und haben geweint. Mein Mann war nämlich auch so ein Hitlerbesessener, diente aber an der Front. Es gab so vieles, was deine Mutter und mich verband.

Und in Wahrfried steigt die Sehnsucht nach seiner Mutter wieder auf, und er fragt Tante Frieda: „Wo ist sie jetzt?“

 

Frau Riemann: Sie wird ein Engel sein und weiterhin Gutes tun.


Warum beschreibst du die Personen bei unseren gemeinschaftlichen Betrachtungen nicht genauer?

 

An ihrem Denken und Tun wirst du sie erkennen. Ein jeder kann sich dann selbst ein Urteil bilden. Denn warum soll ich jemandem meine Vorstellung aufdrängen, wird diese doch immer anders sein, als die deine oder die eines anderen.

 

Ich denke jetzt nicht an die Charaktere, sondern an die äusserlichen Merkmale. Zum Beispiel kenne ich nur aus dem mir Vorgestellten, nicht aber aus der Niederschrift unseres Buches Wahrfrieds Haar- und Augenfarbe. Sind diese etwa nicht wichtig?

 

Auf das Studium der Seele kommt es uns vor allem an. Das Äusserliche, die Welt der Erscheinungen mit ihren Millionen Dingen, dient vornehmlich als Lehrmittel und hat als solches sicherlich seine Bedeutung. Wir müssen natürlich beides im Auge behalten, aber der Seele in ihrer Entwicklung und Entfaltung wollen wir den Vorrang geben. Auch Wahrfrieds Haar- und Augenfarbe sind selbstverständlich wichtig.

 

Warum also erwähntest du sie nicht schon, wenn sie also wichtig sind?

 

Ich wusste, dass du irgendwann danach fragen würdest und habe deshalb bis jetzt darauf gewartet.

 

Aber woher wusstest du das?

 

Es steht geschrieben.

 

Wo?

 

In unserem Buch.

 

Aber wie ist dies möglich, dass wir es doch jetzt erst während der gemeinsamen Vorstellung zusammenstellen?

 

Im Reiche des Geistes ist alles möglich, was der Vorstellung anheimgegeben werden kann. Kurzum, Wahrfrieds Augenfarbe ist blau und seine Haare sind dunkelblond.