Die nacht der Prüfung

Wir befinden uns in einer Hauptstrasse im Herzen der Reichshauptstadt Berlin. Es ist der späte Abend des 9. November 1938. An einem der fünfstöckigen Häuser entdecken wir neben dem Eingang ein Schild, auf dem zu lesen ist: “Dr. Hans Dörr - Heilpraktiker - 2. Stock”. In der Vierzimmerwohnung dieses Diplomchemikers und Doktors der Naturwissenschaften sehen wir ihn und seine Frau, eine geborene Goldstein aus Posen, im Wohnzimmer sitzen, wo auch der Flügel steht, auf dem das Ehepaar des öfteren vierhändig spielt und welcher auch für die Klavierstunden zur Verfügung steht, die Rachel ihren Schülern erteilt. Dörr liest aus einer Abendzeitung seiner Frau das ein oder andere vor. Es wird vom grossen Gedenkfest in München anlässlich des missglückten Hitlerputsches von 1923 berichtet und vom Tod des deutschen Legationssekretars von Rath, der von dem siebzehnjährigen Juden Herschel Grünspan durch Revolverschüsse zwei Tage zuvor in Paris schwer verletzt worden war.

 

Rachel: Ich habe das “ungute” Gefühl, dass etwas Furchtbares in der Luft liegt. Ich bin unruhig wie ein Tier vor dem Ausbruch eines Erdbebens. Ich höre schon, wie das Flämmchen sich zischend an der Zündschnur nach vorne frisst. Gleich wird die Bombe, die unter uns Juden geworfen wurde, detonieren. Können wir nicht das Fenster aufmachen? Mir ist so heiss.

 

Dörr: Ja, meine Liebe. Mir geht es ebenso. Ich ahne Unheil. Erinnerst du dich, was unsere Bobsi im Frühjahr gesagt hat?

 

Rachel: Ja, ganz genau. Im November werden die Synagogen brennen, Fensterscheiben jüdischer Läden werden zerstört und viele der Verfolgten inhaftiert werden. Sie hat mit ihren Voraussagen fast immer recht behalten. Ob sie wohl jetzt an uns denkt?

Dörr: Ich habe sie ja noch vor drei Wochen besucht. Der Pflegeheimleiter hat mir gesagt, dass sie öfter einen Anfall bekomme und dann nach uns schreie. Aber wir durften sie leider nicht mehr bei uns behalten. Hitler sondert ja alle Andersartigen aus, um einen “gesunden Volkskörper” zu schaffen.

 

Rachel: Wann wird er mich aussondern, ich, eine Jüdin, die sogar “nur” ein mongoloides Kind zur Welt brachte? Bin ich nicht das beste Beispiel für Herrn Hitler, dass Juden die arische Rasse “verbastardisieren”?

 

Dörr: Meine Liebste, beruhige dich. dass wir miteinander fürs Leben verbunden sind, haben wir Gott zu verdanken. Er wird schon wissen, warum er uns Bobsi als Tochter geschenkt hat. Wir kennen zwar die Gründe nicht, aber wir wissen, dass wir für dieses Geschenk des Himmels immer dankbar sein werden.

 

Rachel: Du, Hans! Hörst du nicht, wie sich krakeelende Stimmen nähern?

 

Dörr: Nein. ... Doch, jetzt höre ich etwas. Ja, ich höre Scheibenklirren, Rufe.

 

Rachel: Die Bombe ist explodiert. Ich wusste es ja. Das sind die Nazis. Die nehmen jetzt Rache für von Rath an der jüdischen Bevölkerung. Hörst du? Sie schreien: Judassverrecke!” Sie kommen näher. Ich habe solch eine Angst.

 

Dörr: Ich mache das Fenster zu. Beruhige dich. Ich bin ja bei dir. Ja, dassunten sehe ich einige junge Männer. Das sind bestimmt SA-Männer in Zivil, die gleichen, die damals vor fünf Jahren den Boykott gegen die jüdischen Geschäfte initiierten. Unter ihnen sehe ich Jugendliche. Wohl Mitglieder der HJ (Hitlerjugend). Immer diese heissblütigen, blind-fanatischen Jugendlichen, die sogleich zur Stelle sind, wenn man mit Übermacht draufhauen kann.

 

Rachel: Was machen sie? Ich höre Schreie und Scheibenklirren.

 

Dörr: Sie werfen dem Juwelier das Schaufenster ein. Jetzt stehlen sie seinen Schmuck. Einige dringen durchs Fenster nach innen ein. Um Gottes willen! Die rauben alles aus.

 

Rachel: Hoffentlich kommt Samuel Stein nicht nach vorn in den Laden. Er bewohnt ja die Hinterräume. Sie werden ihn bestimmt gleich auf der Stelle töten. Ich habe solch eine Angst. Gottseidank hat Hans noch letztes Jahr meine Anzeigetafel unten am Haus abmontiert. “Rachel Goldstein-Dörr Klavierunterricht”. Dreimal schon waren nachts von Jugendlichen Davidssterne und Schmähungen daraufgeschmiert worden. Ich hätte doch schon längst auswandern sollen. Von der halben Million deutscher Juden befindet sich wohl über ein Drittel jetzt im Ausland. Die sind nun alle in Sicherheit. Aber Hans versicherte mir, dass ich ja mit einem “Arier” verheiratet sei, würde mir auch nichts passieren können. Ausserdem würde uns kein anderer Staat die Einwanderungspapiere für Bobsi geben. Und ohne unsere Tochter würden wir Deutschland nicht verlassen. Ich habe ja solch eine Angst.

 

Dörr: Ich sehe dassdrüben Flammen aufsteigen. Es muss die Synagoge sein, die sie angesteckt haben. Jetzt ziehen sie dort unten jemanden aus dem Laden. Es muss Samuel Stein sein. Vielleicht braucht er Hilfe. Ich werde sofort hinunterlaufen und nachsehen. Ich muss versuchen, Ärgstes zu verhindern.

 

Rachel: Bleibe! Ich sterbe vor Angst. Die hauen dir auch nur den Kopf ein. Was soll aus Bobsi und mir werden, wenn du tot bist? Nein, lieber Hans! Ich flehe dich an! Mische dich nicht ein!

 

Dörr: Aber es geht doch um das Leben von Herrn Stein.

 

Rachel: Aber es geht auch um dein Leben und um unser Leben. Bitte, bleibe hier. Sie könnten ja auch jeden Augenblick hier heraufkommen und mich ermorden wollen.


Zufällig befindet sich unser Marinestabsapotheker aus Bäringen auf seiner Rückreise nach Kiel in der Reichshauptstadt. Und zufällig - ich habe eine Schwäche für dieses Wort, denn es steckt hinter jedem Zufall so viel ausgeklügelte Planung - befindet sich unser Vordichter ebenfalls in jener Strasse dort unten und kommt gerade aus seinem benachbarten Hotel zu dem schon halb ausgeraubten und demolierten Laden. Wollen wir ihn, dass der Zufall es geradezu von uns zu verlangen scheint, aufsuchen und seinem Windmühlenansturm zusehen?

 

Ja, das wäre ganz grossartig. Hoffentlich passiert ihm nichts. Doch welch Zufall! Molar und Dörr nur einen Steinwurf weit voneinander entfernt.


Vor dem Schaufenster des Juweliers stehen etwa dreissig Personen. Wir wollen fünf von den Farben unseres Regenbogenbuches auswählen, um sie den fünf neugierig hinzugetretenen Personen und deren Gedanken für diese Szene auszuleihen, und wir wollen auch die Zeiger der Uhr unserer Zeitvorstellung um eine Viertelstunde zurückversetzen.


Um Gottes willen. So ist’s richtig. Was machen die bloss? Endlich nehmen sie Rache. Das sind ja alles braune Mörder. Es geht gegen die Juden. Diese Parasiten. Ich will doch mal nähertreten. Auf diesen Moment habe ich lange gewartet. Jetzt geht es dieser internationalen Völkermade im deutschen Speck an den Kragen. Das sieht alles so organisiert aus. Gut, dass ich das miterleben kann. Irgendwann mussten sich ja die schweren Gewitterwolken über dem Himmel des Judentums entladen. Die werden doch nicht etwa ... ? Die werfen jetzt mit Steinen auf den Juwelierladen. Ich möchte jetzt um alle Juwelen der Welt nicht dessen Besitzer sein. Wir werden die jüdische Weltverschwörung im Keime ersticken. Dies ist der Rachetag, an welchem wir es diesen Schmarotzern heimzahlen. Dolchstoss gegen Dolchstoss. Das sind ja alles braune Verbrecher. Kein Wunder, dass jetzt Steine fliegen. Heute ist von Rath gestorben. Wir rächen uns an den Grünspans des deutschen Volkes. Mach, dass du fortkommst. Sonst heisst es nachher, du bist es gewesen. Ja, jetzt bekommen die Wucherer Haue. Geschieht ihnen ganz recht. Ich sollte lieber gehen, sonst kommt die Polente, und ich bin dann der Schuldige. Jawohl. Mitgefangen, mitgehangen. Der Jude hat kein Recht mehr, in Deutschland zu leben. Er muss raus! Raus! Ich hätte zu Hause bleiben sollen. Bisher wurden wir ja noch von oben gebremst. Aber jetzt sind die Bremsklötze weggezogen. Jetzt rollen wir. Ach, denk nicht an die Polente. Die hat bestimmt heute Ausgangssperre. Ich bleibe. Wir werden ihnen jetzt das Leben versauern. Mensch, jetzt steigen sie durchs Schaufenster. Die klauen jetzt alles. Gold, Silber, Perlen, Edelsteine. Ich lauf’ nicht weg, solange keine Schüsse fallen. dassgeht die Tür von innen auf. Die prügeln den Shylock heraus. Ja, Jungs! Haut drauf! Schlagen wir mit zu. Es ist nur ein Jud’. Ich hole mir jetzt, was sie uns gestohlen haben. Ich will nicht umsonst dabeigewesen sein. dassdringen sie in den Laden ein. Blut muss fliessen. Tritt ihm in die Judenfresse! Immer hinein! So ist’s richtig! Warum laufe ich weg? Ich bin doch blöd. Geh zurück. Nimm dir auch etwas. Na klar. Ich bin doch kein Rindvieh. Jetzt aber rein in den Laden. Nicht zu spät kommen. Taschen füllen und ab. Ich sollte ihm seine Sechsernase stutzen, diesem Schwein. Die räumen jetzt alle Schätze aus. Und ich Idiot stehe noch hier und zögere. Ran! Los! Jetzt greif zu. Schnell! Die Juwelen kann ich nachher wieder bei einem anderen Juden versetzen. Man sollte sie alle abschlachten. Warum zögert der Führer noch?

 

Unser Apothekersohn kommt in seiner Marineuniform herbeigeeilt. Er sieht, wie man die Frau des Juweliers im Nachthemd aus der Ladenwohnung an den Haaren herauszerrt.

 

Hans Winfried Bröckelberger: Ihr seid wohl wahnsinnig geworden! Wollt ihr wohl augenblicklich von der Frau ablassen!

Er stösst die beiden Rohlinge zur Seite und bückt sich, um der wimmernden und aus der Nase blutenden Frau zu helfen. Aber dann trifft ihn ein eiserner Schlagring am Kopf, und er fällt ohnmächtig auf den Bürgersteig.

 

Als er aufwacht, befindet er sich im Hinterzimmer des Juwelierladens, wo ihn herbeigeeilte Freunde des ausgeraubten und halb totgeschlagenen Ladeninhabers auf die Couch gelegt haben und ihm das Blut abwaschen und den Kopf verbinden. Überall entdeckt man Unordnung, Scherben, Blut. Herr Stein liegt immer noch in Ohmacht. Man bangt um sein Leben.

 

Leser: Ereigneten sich solche und ähnliche Ausschreitungen auch anderenorts?

 

Autor: Ja. Im ganzen Reich fand diese von der Partei organisierte “Reichskristallnacht” statt, in der über zweihundertfünfzig Synagogen angesteckt, mehr als siebentausend jüdische Läden verwüstet und ausgeraubt und fast hundert Juden meist in ihren Wohnungen getötet wurden. In den folgenden Tagen nahm man über dreissigtausend der rassisch Verfolgten in “Schutzhaft”, um sie gegen einen wiederholten “spontanen” Wutausbruch des Volkes vorbeugend “in Schutz” zu nehmen. Die Konzentrationslager von Dachau, Buchenwald und Sachsenhausen füllten sich. Diese schwarze Novembernacht ist der Auftakt zum grössten Völkermord in der Geschichte des Planeten Erde.

 

Wie hat sich denn die Bevölkerung zu dem Vorgehen in dieser Kristallnacht verhalten?

 

Die Landbevölkerung hat davon nur wenig erfahren. Aber wohl jeder Stadtbewohner, von denen zwar nur die wenigsten an den Ausschreitungen teilnahmen und die meisten nur durch die Gardinen ihrer Wohnungen dem schaurigen Vorgehen zuschauten, hat sich am nächsten Tag die zertrümmerten Läden mit den zerbrochenen Fensterscheiben und den davorliegenden Kristallhaufen oder die teilweise noch brennenden oder rauchenden Synagogen angesehen. Viele waren bestürzt. Andere triumphierten innerlich. Doch die meisten hatten einen Schrecken bekommen, sagten jedoch nichts und dachten etwa folgendermassen: Wie ist es möglich, dass unser geliebter Führer, der doch schon so viel Grosses und Gutes für uns alle geleistet hat, auf einmal so etwas Schändliches tun konnte? Aber wahrscheinlich ist alles ohne sein Wissen passiert. Das haben doch bestimmt der Goebbels, der Göring oder der Himmler angezettelt. Nein, der Führer ist eine anständige Person. In der Kampfzeit war er ja Judenhasser. Aber seitdem er Reichskanzler ist, hat er sich gemässigt. Nein, der Führer ist an dem Racheakt für den Pariser Meuchelmord unschuldig.

 

Die Kristallnacht war eine Nacht der Prüfung. Jeder, der die antijüdischen Ausschreitungen oder deren Auswirkungen gesehen hatte und sich danach immer noch innerlich zum Nationalsozialismus und dessen Gründer und Führer bekannte, hatte die Prüfung nicht bestanden. Er machte sich vor seiner eigenen Seele schuldig.