Am folgenden Tag wollen wir uns in der Konstanzer Liebfrauen-Apotheke bei einem Gespräch einfinden, das der wackere Gewährsmann und Titelheld unserer episch-dramatischen Erdentragikomödie (du siehst, der Bogen unseres Buches ist weit gespannt) mit Herrn Wohlrabe, seinem ehemaligen Kameraden auf der Marineoffiziersschule in Kiel, in dessen Hinterstübchen, dem sogenannten Labor, führt.
Wohlrabe: Nein, Hans Winfried. Ich will nichts mehr damit zu tun haben. Letzten Sommer, als du mir hundert Gramm von deinem Morphium verkauftest, ist man mir auf die Spur gekommen. Die Polente (Polizei) war hier und hat eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Gottseidank ging alles noch einmal gut. Aber ich stehe unter ständiger Bewachung. Wenn ich geschnappt werde, verliere ich meine Apothekerlizenz und muss brummen (zeitläufiger Ausdruck in der Bedeutung: Das durch einen öffentlichen Rechtsspruch gemäss der Gesetzesparagraphen für billig ermittelte Mass wegen eines Vergehens wider die Gesellschaft und ihrer Gesetze in einer Haftanstalt abbüssen).
Molar: Aber lieber Klaus Eberhard! Du tust doch nichts Böses. Du verkaufst das Morphium doch nur an Ärzte, Apothekerkollegen und Krankenhäuser. Du hilfst doch nur. Es ist heutzutage für sie so schwierig, wirksame schmerzlindernde Mittel zu beziehen.
Wohlrabe: Das stimmt schon, Hans Winfried. Aber alle Opiate werden gesetzlich kontrolliert und dürfen nur mit Genehmigung gehandelt werden. Was wir tun, ist illegal.
Molar: Aber wenn wir doch nur helfen wollen?
Wohlrabe: Das ist egal. Gesetz ist Gesetz.
Molar: Ich verstehe manchmal die Gesetze dieser Erde nicht.
Wohlrabe: Die Gesetze haben schon ihre Richtigkeit, denn allzuleicht gehandhabt, können ihre Übertretungen zu wuchern beginnen.
Molar: Klaus Eberhard, du musst mir helfen. Ich befinde mich in einer äusserst peinlichen Situation. Unsere Bastschuhherstellung ist verschuldet. Wenn ich die Arbeiterinnen für den vergangenen Monat nicht sofort bezahlen kann, müssen wir die Produktion einstellen. Damit wäre mir und meiner Familie jeglicher Unterhaltserwerb entzogen. Meine Frau, wie sie mir versicherte, würde mich sofort verlassen, und ich stände mit meinen Kindern wieder dort, wo ich vor dreieinhalb Jahren war. Du musst mir helfen und wenigstens einige Gramm Morphium abkaufen.
Wohlrabe: Lieber Hans Winfried! Es lohnt sich nicht für mich, in dieser Hinsicht etwas zu riskieren. Ich kann dir deshalb auch nicht mehr soviel wie früher bezahlen. Ich könnte dir höchstens fünfzig Gramm abnehmen und fünfunddreissig Mark für das Gramm geben.
Molar: dasswäre ich dir sehr dankbar. Ja, das würde uns vor dem Bankrott bewahren. Du bist ein wahrhafter Freund. Das werde ich dir nie vergessen. Bitte, nimm meinen Stock mit den hundertfünfzig Gramm. Du kannst ja später einmal, wenn ich wieder in Not sein sollte, mich für die restlichen hundert Gramm entschädigen.
Wohlrabe: Abgemacht. Ich werde dir eintausendsiebenhundertundfünfzig Mark noch heute bezahlen. Komme diesen Nachmittag in meinen Laden, dann werde ich dir ein Kuvert mit dem Geld aushändigen.
Molar: Ach, lieber Klaus
Eberhard. dassfällt mir gerade ein: Kannst du mir nicht schon fünf Mark vorstrecken, damit ich zu Mittag essen gehen kann?
Ist nicht dein sogenannter „guter“ Mensch im Grunde ein durchtriebener Gauner, der eigentlich hinter Schloss und Riegel gehörte?
Dies zu beurteilen bleibt deiner Vorstellung überlassen. Vielleicht belauschen wir seine Gedanken, während er in einer Gastwirtschaft einem gebackenen Hähnchen munter zuspricht, dessen Fettsosse ihm, dem Nagenden, Knorpelzerspellenden und Knochenkrachenden auf beiden Seiten des Kinnes herunterrinnt. Ich hoffe, lieber Leser, dass dir bei unserer appetitlichen Beschaulichkeit die Pawlowsche Drüse keine Überdrüssigkeiten beschert, auch wenn diese nur als gedacht in Aktion zu treten vermag.
Molar: Gott sei Dank! Den Stock - meine „Notbremse“ und mein „Lebensretter“ - bin ich los. Jetzt habe ich auch bei einer Hausdurchsuchung nichts mehr zu befürchten. Und dass die Polizei bei Heidrun nachsehen und dort in dem hohlen Metallrahmen um das Bild ihres Mannes die dreissig Gramm Opium entdecken sollte, halte ich für ausgeschlossen. Sie selbst weiss und ahnt ja nichts davon. Ich wäre froh, wenn ich von dieser allerletzten Notbremse nie Gebrauch zu machen hätte. Aber ist es nicht egoistisch von mir, dieses Rauschgift zu verstecken, wo es vielleicht dringend in Spitälern benötigt wird? Ich sollte es anonym an ein Krankenhaus schicken. Nun, wir werden sehen, wie es mit meinem Gedichteverkauf klappen wird. Trotzdem fällt mir schon ein schwerer Stein vom Herzen, dass ich den Stock als gefährlichen Begleiter auf meinen Pfaden durch die chaotischen ersten Nachkriegsjahre nicht mehr mitzuführen habe. Wenn ich es richtig betrachte, ist der heutige Tag wieder einmal so ein vollkommener Glückstag, der auch dementsprechend gefeiert werden muss. Herr Ober! Eine Flasche Meersburger Weisswein, bitte!
Nun, vielleicht mögen dir seine Gedanken doch
nicht so ganz ungeheuerlich vorkommen?
Ich erkenne schon die Motive für sein illegales Handeln, aber trotz allem hat er die Gesetze der Allgemeinheit vor die eigenen Interessen zu stellen, auch wenn diese aus der Not geboren werden sollten.
Ja, ich gebe dir darin ganz recht.
Denn alle irdischen
Gesetze sind ja
nur scheinbar von den Menschen
ausgedacht worden, entspringen sie doch einer höheren Vorsehung. Aber unser Held ist ja kein „perfekter“ Mensch,
und er soll es auch gar nicht sein. Selbst hochentwickelte Seelen, auch wenn sie mit einem Sendungsauftrag auf der Erde inkarniert werden, sind „beileibe“ nicht vollkommen. Denn sie sollen ja von
den anderen sich noch seelisch entwickelnden Menschen nicht als Abnormitäten, sondern als scheinbar ihresgleichen angesehen werden, um auf jene einen nachhaltigeren Einfluss nehmen zu können. Nur
wenn man die jeweiligen Menschen genau studiert, kann man bei einer gewissen Übung auch deren seelischen Entwicklungsgrad ablesen. In der nächsten Szene werde ich das Augenmerk unseres jetzigen
Hähnchenverspeisers auf einen Gegenstand lenken, der dir mehr über seine Wesensart sagen dürfte als einige Kapitel ausgedehnter Charakterbeschreibung.
Es ist Viertel vor vier. Unser hoffnungsfroher Rauschgifthändler betritt die Liebfrauen-Apotheke. Er wird mit einem bedeutungsvollen Blick des weissbekittelten Herrn Wohlrabe begrüsst und zugleich mit nämlichem an das untere Ende des Ladentisches bedeutet, wo vermeintlich unauffällig, doch von der neugierig spähenden Apothekergehilfin nicht unbemerkt geblieben, der Briefumschlagtransfer stattfindet, begleitet von den raunenden Worten des Übergebers, dass sich alles wie abgemacht verhalte. Der somit Bereicherte steckt den dicken Umschlag in die rechte Brusttasche seiner Jacke und ruft, wie zufällig auf ein Medikament mit dem Namen „Lebensretter“ in der Glasvitrine blickend, mit volltönender Stimme: „Was ist denn das? Ist etwa ein Medikament entdeckt worden, das einen jeden vom Tod erretten kann?“
Und sein jetzt auflachender Kollege antwortet ihm, indem er den Gegenstand der Erheiterung hervorholt: „0 nein, dies ist nur ein Lebensretter in gewissen und zwar in sehr seltenen Fällen. Er wirkt zum Beispiel der inneren Verblutung bei Verkehrsunfällen entgegen und kann somit, im rechten Moment noch angewandt, einem Menschen das Leben retten.“
Molar: Aber das ist ja grossartig! Dann könnte der Flaschenträger eines solchen Elixiers, sollte er zufällig am Unfallsort anwesend sein, einem innerlich zu Tode Blutenden helfen und gar dessen Leben retten? Das ist eine grandiose Erfindung! Ja, gib mir nur eines dieser kleinen flachen Fläschchen. Es passt sehr gut in meine andere Brusttasche. Ich werde es von nun ab immer mit mir herumtragen und anderen ebenfalls empfehlen, dies so zu handhaben.