Der Krieg ist noch nicht zu Ende

Molars Ältester, der elfjährige Hermann, ist trotz seiner Jugend schon ein Aussenseiter, ein Eigenbrötler, wie man sagt, ja einer, der es vorzieht, bei jeder passenden Gelegenheit sich irgendwo zurückzuziehen, um eine Bude (das ist die bescheidene Imitation eines Wohnraumes) zu bauen, sei es auf einem Baum, sei es halb in oder über der Walderde oder auch in der Schlucht, wo man sich in der steilen Sandwand eine Höhle ausgraben kann. Man nennt ihn den Tagträumer, ohne genau zu wissen, wie sehr diese Bezeichnung eigentlich zutrifft. Seine Umwelt hat sich ihm schon früh, besonders aber seit dem Tod der Mutter, als etwas erwiesen, das ihn nicht haben will. Seine ganze Aussenwelt verhält sich eigentlich zu ihm wie eine Mutter, die ihr Kind von sich weist und sich grundsätzlich weigert, ihm Liebe zu geben. Wo immer er hinkommt, man will ihn nicht, und man geniert sich auch nicht, ihn dies in mehr oder weniger schicklicher Form merken zu lassen. So kann es kaum wundernehmen, dass seine aus der Vorstellung gezauberte Welt Ersatz bilden muss für die ihm erwiesene Lieblosigkeit. Und diese seine Flucht nach innen verleiht sich dadurch Ausdruck, dass er sich eine selbst besorgte Umfriedung schafft, eine eigens bewerkstelligte Abschirmung und Zufluchtsstätte also, die zugleich Trutzburg und Friedensschloss seiner heimlichen Geborgenheitssehnsüchte zu sein hat. Und so kommt es, dass er selbst auf der Schulbank von seinem noch zu fertigenden oder schon bezogenen Refugium träumt und daher dem Vorgehen im Klassenraum - wenn überhaupt - nur wie aus weiter Entfernung folgt, aus der ihn einzig die schrecklich wehtuenden Strafmassnahmen der Lehrer - vor allem dieses Tatzengeben - in die für ihn grauenvolle Gegenwart zurückholen können, um ihn danach nur desto schneller in seine friedvollere Vorstellungswelt zurückzuheben, gleich einem gasgefüllten Ballon, der sich nur widerwillig an der Schnur zu Boden ziehen lässt und bei der ersten Gelegenheit versucht, wieder in die Höhe zu schweben. So ist er selbst seinen Geschwistern gegenüber ein Unnahbarer und in sich Verschlossener. Ja, sein Schicksal hat es ihm so beschieden, dass die Liebe sich ihm bis in sein höheres Alter verschliessen soll. Sein Lebensweg ist mit Dornen bestreut, und oft schon hat er vor Schmerz aufschreien müssen, bis er auch diesen Schrei kaum noch ausstösst, und schlüge man ihn noch so fest.

 

Trotz des kalten, aber sonnigen Wetters in der ersten Februarwoche nutzt Hermann am Nachmittag die Gelegenheit, um seine Höhle zu inspizieren, die er im vergangenen Herbst schon gefertigt hatte. Mehrere Wochen harter Arbeit hatte er darangesetzt, aus dem Sandstein am oberen Rand der Schlucht diese Aushöhlung mit einem zugespitzten Pflock und einem als Hammer dienenden Stein zu schaffen. Danach flocht er aus Reisig eine Türe und bastelte sich aus Brettern Tischchen und Bank. Alles steht noch wie im Herbst. Die Türe hat der Wind zerzaust. Gottseidank hat keiner der Flüchtlinge sie als Brennholz fortgetragen. Ich werde sie bald reparieren. Wenn ich doch nur mehr Zeit hätte. Dauernd werde ich mit schwerer Arbeit überhäuft. Jetzt muss ich wieder diesen grossen Korb voller Holz sammeln. Für jeden gefüllten Korb bekomme ich eine Scheibe Brot mit Margarine. Es ist so schwer, Äste zu finden, denn die anderen Flüchtlinge haben schon alles eingesammelt, was von den Bäumen während der Herbst- und Winterstürme heruntergefallen ist. Ich muss gleich wieder weiter durch die Schlucht. Vielleicht finde ich sogar noch einige passende Äste für meine Höhlenwohnung. Ja, ich will heute noch mit der Wiederherstellung der Türe anfangen, wenn ich auch später wieder von Onkel Wolf verhauen werden sollte, weil ich erst so spät zurückgekommen sein werde. dassruft doch jemand meinen Namen? Ja, das ist Wahrfried. „Ich bin hier in der Höhle!“, so ruft er jetzt mit lauter Stimme zurück. „Was ist los?“

 

Wahrfried: Eine Bande von Franzosenjungen verfolgen Stadtjungen. Sie werden bestimmt gleich in der Schlucht sein. Wenn sie dich entdecken, dann fallen sie wohl wieder über dich her. Komm schnell nach Hause!

 

Hermann: Nein, ich bleibe hier! Vielleicht wollen sie meine Höhle zerstören. Ich muss sie verteidigen. Geh du nur zurück, wenn du Schiss hast.

 

Wahrfried: Sei doch vernünftig. Ich weiss doch, dass du wieder der Leidtragende sein wirst.

 

Hermann: Komm, verstecken wir uns hier gemeinsam. Vielleicht entdeckt uns auch keiner von ihnen.

Und in dem Augenblick, als sie die ersten paar Meersburger Stadtbuben auf einem Pfad die Schlucht hinunterrennen sehen, klopft den beiden Wartenden vor Aufregung das Herz schneller.

 

Hermann: Sieh, der Schreiner-Ludwig und der Metzger-Emil sind auch dabei! Die beiden haben mich noch letzte Woche auf meinem Heimweg verprügeln wollen. Aber ich konnte ihnen durch die Weinberge entwischen. Beide sind mindestens zwei Jahre älter als ich. Da, siehst du, dasskommen die ersten Franzosenjungen. Weisst du noch im letzten Jahr, als sie meine Laubbude überfallen haben? Aber ich habe es ihnen verleidet. Einem habe ich einen grossen Ast an den Kopf geworfen. Es hat geblutet. Später ist sein Vater, ein Offizier, mit dem Militärauto in das Sommertal gekommen. Alle Barackenjungen mussten sich aufstellen, und sein Sohn hat auf mich gezeigt. Und der Offizier hat mit Papi geschimpft und ihm gedroht. Und Onkel Wolf musste mich im Beisein des Offiziers mit der Peitsche verhauen. Sieh, jetzt haben sie den Ludwig gefasst! Ja, haut ihn! Schlagt ihm die Fresse blutig! Du, Wahrfried, ich möchte jetzt am liebsten ihm auch eins mit der Faust verpassen. Aber trotzdem, wir müssen als deutsche zuerst den deutschen helfen.

 

Wahrfried: Bleib hier! Wenn dich die Franzosen sehen, dann lassen sie von den Stadtkindern ab und verdreschen dich. Das ist doch ganz klar. Denk doch an letzten Herbst.

 

Hermann: Aber Wahrfried! Die Franzosen sind doch unsere Erbfeinde. Wir können doch jetzt die deutschen nicht im Stich lassen.

 

Wahrfried: Denk doch nicht mehr an Feinde. Alle Menschen sind deine Brüder.

 

Hermann: Nein, für mich sind sie alle Feinde. Die einen weniger als die anderen, das ist der einzige Unterschied. Sieh doch, die Franzosenkinder betrachten uns immer noch als ihre Gegner, die ständig bekämpft werden müssen. Der Krieg ist noch nicht zu Ende, glaube mir.

 

Wahrfried: Lieber Hermann, ich bitte dich, bleib hier! Wenn die dich entdecken, dann machen sie vielleicht gemeinsame Sache, und beide Banden stürzen sich auf dich. Sie sind sich doch in ihrem Hass gegen dich einig.

 

Hermann: Na siehst du, jetzt sagst du selbst, dass sie meine Feinde sind. Von wegen „Brüder“! Nun gut, ich sollte hier versteckt bleiben. Du hast recht. Aber ein deutscher muss jedem deutschen sofort beispringen, wenn er von ausländischen Feinden bedroht wird.

 

Wahrfried: Onkel Dörr hat mir erzählt, dass wir vielleicht auch einmal in einem früheren Leben Franzosen, Engländer, Amerikaner oder gar Russen waren und dass es darum töricht ist, auf andere Nationen einen Hass zu haben.

 

Hermann: Ach, glaub doch nicht an solchen Unsinn. Der alte Blindgänger macht dich noch ganz verrückt. Hilf mir lieber, meine Bude zu vergrössern, oder baue dir am liebsten selber eine. Aber sie muss ganz stark befestigt sein, damit sie von keinem erobert werden kann.

 

Wahrfried: Aber wenn du dir keine Festung schaffst, kann sie auch nicht erobert werden. Du forderst doch mit deinen Buden nur alle anderen Jungen heraus, sie dir zu zerstören, denn sie freuen sich doch nur, wenn du dich ärgerst. Man darf die Wut und den Neid der anderen nicht herausfordern. Das schafft nur Unfrieden.

 

Hermann: Du solltest Pastor werden. Sieh dort unten! Die Franzosen lassen die deutschen fortlaufen. Pst! Sie kommen jetzt hier herauf. Sie haben die Höhlen entdeckt.

 

Und beider Herzen pochen ganz heftig. „Venez ici!“, so hören sie jetzt unverständliche Worte. „Voilà la cachette des boches! On va la raser!“ Und schon hat ihr Anführer, ein Vierzehnjähriger, die beiden Versteckten gesichtet und ruft den anderen zu: „Attention! Y a encore des boches ici! A l’attaque!“

 

Und als Wahrfried noch die sechs anderen zum Kampf Bereiten hochsteigen sieht, entschlüpft er durch die Türe nach aussen und klettert behend seitlich am Felshang weiter, bis er zu einem herabhängenden Ast gelangt, der ihm die Möglichkeit gibt, nach oben an den Rand der Schlucht zu gelangen. Von dort eilt er flugs zur Baracke und berichtet Onkel Wolf, dass die Franzosen seinen Bruder verhauen.

 

Wolf: Geschieht ihm ganz recht, diesem Lümmel. Hoffentlich verhauen sie ihn gründlich, ohne dass er einem von ihnen wieder eine Platzwunde zufügt. Ich kann diesen Bengel einfach nicht ausstehen.

 

Eine halbe Stunde später - es ist schon dämmrig geworden - kommt Hermann hinkend nach Hause. Seine Jacke ist aufgerissen und sein Haar zerzaust. Den leeren Korb mit der grossen runden Öffnung hält er, halb schleifend, in der linken Hand, während die rechte sich das Blut und den Schweiss von der Stirne wischt. Wolf hat schon auf ihn gewartet und tritt, seiner ansichtig werdend, aus der Barackentüre heraus, wobei er die kurzstielige und aus Leder geflochtene Hundepeitsche noch hinter seinem Rücken versteckt hält. Lilia steht am Fenster.

 

Wolf: Wo ist das Holz, das du holen solltest?

 

Hermann: Die Franzosen haben mich aufgehalten.

 

Wolf: Komisch, dass sie Wahrfried nie etwas tun. Nur dir allein geschieht immer etwas. Sieh einmal, wie du aussiehst! Blut läuft auf deine zerrissene Jacke. Warum bist du nicht weggelaufen, was?

 

Hermann: Ich musste doch die Höhle verteidigen.

 

Wolf: dasshaben wir’s! Habe ich nicht dutzendmal verboten, dir eine Höhle zu graben?

Und jetzt bricht das Unwetter über den schon Geschlagenen mit aller Macht herein.

 

Hinter der Wand stehen Wahrfried, Edelgard und Helga und halten sich umschlungen. Bei jedem der klatschenden Schläge draussen zucken sie zusammen, und die Vierjährige bibbert vor Angst und macht dabei wieder in ihr Höschen.