Denk doch nicht immer gleich an andere

Denk doch nicht immer gleich an andere 

 

Einige Tage später wird es wieder Mitternacht. Lilia befindet sich im Schlafzimmer, das durch aufgehängte Teppiche vom Wohnzimmer getrennt ist. Nebenan arbeitet noch der immer strebend sich bemühende Gatte. Er versprach ihr, auch gleich ins Bett zu kommen. Jetzt steht sie vor dem Spiegel, ganz entblösst, und betrachtet sich: Meine Brüste sind flach und hängen schon wie zwei Lappen herunter. Früher waren sie so wunderbar. Ich war immer stolz auf sie gewesen. Auch mein Bauch hat Falten bekommen, und meine Gesichtshaut zeigt schon erste Knitter in den Wangen und auf der Stim. Ja, es ist gut, dass ich immer das Licht ausmache, wenn Wini zu mir ins Bett steigt, und dass ich schon aufstehe, wenn er noch schläft. Nein, ich möchte nicht, dass er vor meinem Körper eine Abscheu bekommt. Das darf nicht sein. Ich muss mich immer gut pflegen, die Haare ordentlich frisieren und auch von der braunen Gesichtskrem auftragen.

 

Und als sie unter die warme Bettdecke geschlüpft ist, ruft sie laut: „Hans Winfried!. Komm doch bitte jetzt zu Bett.“Ja, Lilalein“, so tönt es zurück, „ich komme sofort.“ Ach, sie ist immer so auf meine Küsse und Umarmungen versessen. Ich würde lieber noch ein wenig am Schreibtisch arbeiten. Auch an Vater und Mutter sollte ich einen Brief schreiben. Aber dann entscheidet er sich dafür, den Brief wieder zu verschieben, den er seinen Eltern eigentlich schon zu Weihnachten schreiben wollte. Nun haben sie immer noch keine schriftlichen Weihnachts- und Neujahrswünsche bekommen und mussten sich mit denen begnügen, welche die Schwester in seinem Namen seiner Schokoladengabe in einem Päckchen beifügte.

 

Eine halbe Stunde später, nachdem er sich zu Lilia ins Bett verfügt hatte und sie den wonnigsten Teil eines Vierundzwanzigstundentages genossen haben, liegen sie nun unter der Bettdecke, und Lilia streichelt seine behaarte Brust: Ja, wenn ich die Liebe nicht mehr hätte, dann könnte ich auch diese schlimme Zeit kaum aushalten. Aber für meinen Wini tue ich alles. Er darf nur nie zu lange wegbleiben. „Du, Wini, wen hast du eigentlich von deinen vier Kindern am liebsten?“

Molar: Darüber habe ich mir noch nie Gedanken gemacht. Auch weiss ich nicht, was aus ihnen werden soll. Auf jeden Fall scheint keines des göttlichen Funkens teilhaftig zu sein.

 

Lilia: Doch, ich glaube, Wahrfried hat ihn bestimmt. Wenn er mich manchmal so wehmütig ansieht, dann spüre ich, dass sein Herz voll ist von ihm noch unbewusstem Geheimnisvollen. Gestern entdeckte ich ein blaues Löschblatt in seinem Mathematikheft. Darauf stand: „Zum Trutzen der Welt bin ich gestellt, in ihr zu schaffen mit göttlichen Waffen.“ Darunter prangten zwei grosse Tintenkleckse. Und dazwischen befand sich ein grosses A. Er weiss nicht, dass ich es gelesen habe.

 

Molar: Diese Zeilen besagen noch gar nichts. Ich gab ihm vor kurzem eines meiner Gedichte zu lesen, und er sagte mir, dass es ihm gar nichts bedeuten könne, dassdas Unverständige“, so drückte er sich aus, fehle. Als ich fragte, was er damit meine, gab er zur Antwort: „Das weiss ich selber nicht. Das rutschte mir einfach so heraus.“ Er ist noch ein unbeschriebenes Blatt, ja, ein unverschmiertes Löschblatt, das auch noch viele Kleckse aufsaugen wird. Ich glaube, er wird einmal Gärtner, denn er liebt die Blumen so sehr.

 

Lilia: Vielleicht wird er einmal ein Gärtner in einem höheren Sinn, und statt Blumen hegt er Beete voller Wörter. Ich liebe deinen Wahrfried. Es kommt mir so vor, als ob ich ihn schon seit vielen Jahrhunderten kenne. Er ist mir das liebste deiner Kinder. Edelgard ist zu langsam. Ich muss ihr alles zweimal sagen. Und Hermann, ja, ihn kann ich einfach nicht begreifen. Er ist ein ständiger Widersacher. Er strahlt so gar keine Liebe aus. Erst heute musste ich ihm wieder Ohrfeigen geben, als er Wasser aus dem Eimer auf den Teppich schwappte. Gut, dass Wolf nicht zur Stelle war. Ja, und deine Kleinste, sie ist, glaube ich, bei Loderers gut aufgehoben. Sie ist ein braves Mädchen und versteht sich mit meiner Enkeltochter recht gut.

 

Molar: Ich glaube, Hermann wird einmal zur See fahren.

Lilia: Das wird er auf keinen Fall. Er ist doch genauso unpraktisch veranlagt wie du. Nein, eher wird er Pastor oder Beamter.

„Du“, so spricht sie zu ihm nach einer kleinen Pause, „wenn wir in diesem Sommer viel Geld verdienen, dann können wir uns vielleicht schon bald ein richtiges Haus mieten.“

 

Molar: Ja, so eins, wie es der Maler Dieter auf dem Weinberg stehen hat, mit Blick auf die schneebedeckten Schweizer Alpen, mit Sonnenauf- und -untergang über dem Bodensee. Ja, das wäre etwas Wunderbares. Ich könnte dann draussen im Garten bei meiner Arbeit sitzen und mir von den Vögel zuzwitschern lassen.

 

Lilia: Du bist so wunderbar romantisch. Ich hoffe, dass du immer so viel poetischen Sinn besitzen wirst. Stelle du nur deinen „Perikles“ fertig. Ich werde mich in diesem Jahr ganz der Schuhherstellung widmen und meine Malerei einstellen. Die kann ich später wieder hervorkramen. Vielleicht können wir im Sommer, wenn wir gut verkaufen, noch zwei oder drei Arbeiterinnen einstellen. Ich werde unten am Schiffsanleger wieder meinen Verkaufsstand aufstellen. Wahrscheinlich werden, so das Wetter günstig ist, in diesem Jahr schon wieder mehr Touristen Meersburg besuchen als im Vorjahr, denn es geht doch mit allem allmählich ein bisschen bergauf.

 

Molar: Ja, es kann ja nur besser werden. Im Herbst ziehen wir in unser Häuschen, und Wolf und Helga kommen selbstverständlich mit und Heidrun mit ihren Kindern auch.

 

Lilia: Aber Liebster, denk doch nicht immer gleich an andere. Sage mir: Liebst du mich auch wirklich?

 

Molar: Ja, liebes Lilaleinchen.

 

Lilia: Ich liebe dich auch. Gute Nacht!

 

Sie gibt ihm einen Kuss und dreht sich auf die andere Seite. Unser Dichter fragt sich aber nun selber: Liebe ich sie wirklich? Sie ist doch eigentlich eine vortreffliche Gattin. Welche Frau würde schon einen Witwer mit vier Kindern geheiratet haben? Ja, sie muss mich schon sehr lieben oder aber ein grosses Herz an Barmherzigkeit haben. Als ich sie kennenlernte, dassentbrannte ich ganz für diese rothaarige Malerin. Aber jetzt hat meine Begeisterung für sie doch merklich nachgelassen.

 

Gestattest du, dass wir uns den Tag ihres Kennenlernens ansehen, denn ich hätte allzugerne gewusst, was seine ersten Eindrücke von ihr waren?

 

Ja natürlich, lieber Leser. Wir wollen uns jenen Tag, es ist der 23.4.1946, ansehen. Ich hatte sowieso vor, an dieser Stelle eine Rückblende vorzunehmen. Äussere nur immer deine Wünsche, und ich werde ihnen bereitwilligst nachzukommen suchen, sind wir es doch beide, die dieses Epos uns gemeinsam vorstellen wollen.