Das verschluckte "Aber"

Als ihre drei schulpflichtigen Stiefkinder mit dem Ranzen auf dem Rücken am Mittag ins Sommertal zurückkehren, steht Lilia, auf den Fussballen wippend und die Ankommenden beobachtend, vor der Baracke. Sie erspähend, vergrössern jene sofort die Distanz zu ihren beiden Cousinen, die ihnen bisher mit etwa fünf Meter Abstand gefolgt waren. Und als sie sich schon anschicken, ein “Guten-Tag-liebe-Mami!” zu sagen, holt jene wütenden Blicks mit der Hand aus und versetzt Hermann zwei Ohrfeigen. Dann sagt sie laut, damit die Heidruntöchter sie auch verstehen können:

 

“Ich habe euch doch verboten, mit den Nazikindern zur Schule zu gehen oder mit ihnen zu sprechen!”

 

Hermann: Aber wir haben doch gar nicht miteinander gesprochen!

 

Lilia gibt ihm wieder eine Ohrfeige und sagt: Aber ihr seid mit ihnen zusammen zurückgelaufen.

 

Hermann: Aber wir haben doch Abstand gehalten.

 

Lilia: Widersprich nicht! Der Abstand hat ab sofort mindestens hundert Meter zu betragen! Verstanden?

 

Kinder: Jawohl, liebe Mami.

 

Und als ihre drei Rangen (unartige Kinder) zu Tisch sitzen (ihr Vater befindet sich auf einem Spaziergang zur Post) und ihren Teller dünner Kartoffelsuppe auslöffeln, steht ihre goldzahnaufblitzende Stiefmutter hinter ihnen, und ihr Hass gebiert folgende kopfwaschende Rede:

 

“Frau Heitmann ist nicht mehr eure Tante. Sie ist eine gemeine, ekelhafte Frau. Sie hat damals, als ihr noch klein wart, dabei mitgeholfen, dass man Tausende von Kindern grausamst umbrachte. Ihr dürft nicht mehr mit diesem Untier sprechen. Sie ist kein Mensch. Und darum ist sie auch ab sofort nicht mehr eure Tante. Mit ihren Kindern dürft ihr auch nie wieder sprechen. Sie haben ihr Blut und werden einmal genauso wie ihre Mutter Kindermassenmörder werden. Wenn ich euch dabei erwische, dass ihr sie grüsst oder mit ihnen sprecht, bekommt ihr Haue. Habt ihr verstanden?”

 

Kinder: Ja, liebe Mami.

 

Lilia: So, jetzt rasch an die Arbeit! Faulenzen gibt es nicht!


Als am Nachmittag unser vergeblicher Postgänger seine Schritte an den Baracken vorbei auf die Hütte zulenkt, dessen zwei Türen jeweils mit einem luftdurchlässigen Herzchen versehen sind (dieses Herzsymbol hat in deutschen Landen eine gleiche Bedeutung wie das Zweinullenzeichen im Hafenrestaurant, lädt also nicht nur die Liebeskummerbeladenen ein, ihre Schwernisse abzusitzen), kommt seine Nichte Gerhild, ihn “Onkel Hans Winfried!” rufend, hinter ihm hergerannt, übergibt ihm einen zusammengefalteten Zettel und läuft sogleich wieder davon. Auf dem Papierbogen liest unser Notgepeinigter folgendes:


Lieber Hans Winfried!

 

Ich habe Dir von Vater Wichtiges mitzuteilen. Ich werde bei Dunkelheit um Punkt neun Uhr hinter der Toilette auf Dich warten.


Heidrun: Soweit ist es also gekommen, dass wir Geschwister uns nur heimlich und bei Dunkelheit treffen können. Und an allem hat nur dieses gemeine Luder Schuld.

 

Molar: Aber lieber Heidrun! Wie sprichst du von meiner Frau?

 

Heidrun: Ja, verzeih. Aber sie ist nun mal ein böses Weib.

 

Molar: Nein, nein, das ist sie wahrhaftig nicht. Ich kenne sie besser. Es sind nur die schwierigen Umstände der Nachkriegszeit, welche die Nerven von uns allen strapazieren. Sie ist eine gute Frau.

 

Heidrun: Weisst du, was sie mich, deine Schwester, genannt hat? “Hitlerhure!” und “Naziflittchen!” Ausserdem verbreitet sie in der ganzen Stadt, dass Rosa und ich Lesbierinnen seien.

 

Molar: Was? Das kann doch unmöglich wahr sein!

 

Heidrun: Jawohl! Du hältst ja alle solche Wahrheiten für unmöglich. Du gehst ja leider blind durch die Welt. Aber ich muss dir nun klaren Wein einschenken, auch auf die Gefahr hin, dass es dir weh tut. Lilia ist ein Spitzel für den Osten.

 

Molar: Aber, wie kommst du denn darauf?

 

Heidrun: Sie war schon früher aktive Kommunistin, wie du ja weisst.

 

Molar: Davon hat sie mir nie etwas erzählt.

 

Heidrun: Früher, in einer vertraulichen Stunde, hat sie ausgeplaudert. Und jetzt hat sie sich beim Möbelabholen mit ihrem früheren russischen Stallknecht getroffen, der inzwischen zum Spitzeloffizier avanciert ist. Dieser hat sie gleich als Spionin angeheuert.

 

Molar: Aber ich bitte dich! Phantasiere nicht! Woher willst du das wissen?

 

Heidrun: Sie hat mir selbst erzählt, dass dieser KGB-Offizier ihr ein Schriftstück ausgestellt hat, welches sie in die Lage versetzte, unbelästigt die Möbel über die Grenze zu schaffen. Und du glaubst doch nicht im Ernst daran, dass ein Spitzelausbilder Stalins etwas aus reiner Liebe ohne Gegenleistung ausführt!

 

Molar: Du glaubst, sie sei ... ?

 

Heidrun: Ich glaube nicht, ich weiss es!

 

Molar: Aber das ist doch unmöglich. Lilia ist doch eine so tapfere Frau. Sie hat sich in selbstloser Hingabe bemüht, für uns die Möbel zu holen.

 

Heidrun: Ja, “unsere” Möbel! dass ich nicht lache! Alles hat sie für sich behalten, von einigem kaputten Klumpatsch abgesehen. Hier ist der Brief von Vater. Ich habe ihn heute erhalten. Ich hatte ihm geschrieben. Er besteht darauf, wie du hier lesen kannst (und sie lässt den Lichtkegel ihrer Taschenlampe über den dargereichten und nun ausgefalteten Brief scheinen), dass ich Mutters Ehebett bekomme. Er schreibt, dass es deine Pflicht sei, in seinem Namen für Gerechtigkeit zu sorgen.

 

Molar: Nun ja. Ich werde mit Lilia darüber sprechen.

 

Heidrun: Sei aber mal ein Mann! Und lass dich nicht von ihr dauernd unterbuttern. Hans Winfried! Wir müssen zusammenhalten! Das sind wir unseren Eltern schuldig! Wir beide dürfen uns nicht durch Lilia auseinanderspalten lassen.

 

Molar: Nein, das darf niemals geschehen. Ich werde versuchen, den Burgfrieden wiederherzustellen.

 

Heidrun: Weisst du auch, dass sie deinen Kindern verboten hat, mit mir und den meinen überhaupt zu sprechen?

 

Molar: Aber nein! Das ist doch nicht möglich!

 

Heidrun: Nun weisst du, was für eine Frau du hast. Sie ist eine “rote” Hexe.


Und als Hänsel und Gretel sich in ihren jeweiligen Teil des Knusperhäuschens (nicht das mit den Herzchen!) zurückbegeben haben, rüstet sich unser Familienzwistschlichter auch sogleich zur kühnen Tat.

 

Molar: Liebes Lilalein! Heidrun hat mir erzählt...

 

Lilia: Was? Du hast trotz meines Verbotes dieses Biest...

 

Molar: Lilia, ich bitte dich! Sie ist meine Schwester!

 

Lilia: Deine Schwester oder nicht, das ist ganz egal! Ich verbiete dir ein für allemal, mit ihr oder mit ihren Kindern noch einmal zu sprechen! Wir haben mit der “braunen” Hexe von “nebenan” nichts mehr zu schaffen! Das gilt auch für dich! Wenn du dieses Gesetz übertrittst, sind wir geschiedene Leute!

 

Molar: Vater hat geschrieben. Er besteht darauf, dass seine Tochter das Ehebett bekommen soll.

 

Lilia: Hans Winfried! Noch ein weiteres Wort in dieser Angelegenheit, und ich verlasse dich! Hast du verstanden? Ich untersage dir, ihren Namen überhaupt noch in meiner Gegenwart zu nennen! Sie existiert für unsere Familie nicht mehr!

 

Molar: Aber...

 

Lilia: Kein Aber! Entweder du bist mein Mann und stehst auf meiner Seite, oder ich bin auf und davon (nicht auf dem Besen). Eine andere Wahl gibt es nicht!

 

Molar: Ja, a...

 

Und unser verdatterter “Mann” verschluckt das letzte Aber, als ihm die blitzsprühenden braunen Augen seiner zweiten Ehehälfte drohend begegnen.