Barackenmusik

Es mag dir nicht von ungefähr erscheinen - wie so vieles in diesem Lebensbuche, wie wir hoffen -, dass wir den ersten Tag dieses Monats mit Musik beginnen wollen, und zwar, um uns genauer auszudrücken, mit Barackenmusik. Betrachte diese also bitte als eine Art Zwischenaktsmusik oder vielmehr als Präludium zu einem neuen Monat, bevor wir uns wieder unserem Helden auf seiner Wanderung durch das dramatische Jahr „siebenmalsieben“ zuwenden.

 

Es ist soeben fünf Uhr geworden. Nun lassen die fünf Angestellten in der Baracke ihre Arbeit ruhen. Frau Katzenbach begibt sich humpelnd an ihrem Stock nach Hause. Sie benötigt für die zwei bis drei Kilometer fast eine Stunde. Sie kann auch nicht die Treppen beim Alten Schloss hinauf- oder hinuntersteigen und muss somit den Umweg über die Steigstrasse in Kauf nehmen. Frau Loderer und ihre Tochter nehmen Irmgard, die mit Helga spielte, mit in ihre breitere Baracke, während Rosa Reinwald ihre neue Freundin Heidrun nach nebenan begleitet, denn jene hatte ihr schon vorige Woche angeboten, bei ihr zu wohnen, dass der tägliche Weg mit der Bodenseefähre hinüber nach Staad zu kostspielig und auch zu zeitaufwendig ist.

 

Es gehört zu Wahrfrieds täglichen Pflichten, die Werkstatt nach Verlassen der Schuhmacherinnen zu säubern. Überall liegen Bastblätter oder Enden der abgeschnittenen Bastzöpfe herum. Der Tisch muss geleert und die Stube ausgefegt werden, die Schuhleisten haben an einem bestimmten Ort zu stehen, auch das Halbfertige und Angefangene muss ordentlich auf einem Bord zusammengestellt sein. Lilia legt grossen Wert auf Ordnung, und Nachlässigkeit in dieser kann durch Abendbrotentzug oder Spielverbot am nächsten Tag bestraft werden. Aber Wahrfried hat trotz seiner Jugend schon viel Sinn für Ordnung, weshalb seine Stiefmutter jetzt auch ausschliesslich nur noch ihn mit diesem Amt betraut. Edelgard ist neben dem Staubwischen und dem Auskehren der übrigen Zimmer vor allem mit dem Abwaschen und Abtrocknen beauftragt, während Hermann ausser dem Wasserschleppdienst täglich mehrere Stunden im Walde nach herumliegenden Ästen zu suchen und diese dann zur Baracke zu ziehen hat, wo die dickeren unter ihnen von Wolf oder ihm selbst zersägt oder mit dem Beil zerhackt und die dünneren mit der Hand in Stücke gebrochen werden.

 

Die kleine Helga hilft auch heute Wahrfried wieder beim Aufräumen. Und obwohl sie ihm darin mehr hinderlich ist, als dass sie ihm hilfreich sein könnte, lässt er sie doch gewähren: „Wie froh bin ich, dass jetzt Onkel Wolf und Mami nicht hier sind. Sie kommandieren immer herum, und nichts kann man ihnen ordentlich und schnell genug machen. Helga, hörst du, nebenan spielen jetzt Gerhild und Mechthild Flöte. „

 

Beide halten in ihren Aufräumarbeiten inne und lauschen. „Wahrscheinlich hat Tante Heidrun ihren Töchtern mitgeteilt, dass Onkel Wolf in die Stadt gegangen ist. Somit nützen sie jede Gelegenheit zum Spielen aus. Der Onkel Wolf kann es gar nicht dulden, dass musiziert wird. Ja, vor Weihnachten, dassmussten meine Cousinen fleissig für das Krippenspiel in der evangelischen Kirche üben. Und jedesmal, wenn sie nebenan zu spielen begannen, donnerte Onkel Wolf mit der Faust gegen die Wand und schrie hinüber: „Lasst euer gottverdammtes Gepfeife! Geht in den Wald, wenn ihr flöten wollt!“ Nur selten noch wagen sie zu üben. Und dann war ihr Gespiel so zaghaft und verhalten, dass man es kaum vernehmen konnte, bis sie nur noch spielten, wenn sie wussten, dass der schimpfende und furchteinflössende Onkel weggegangen war. Aber er geht zu selten weg. Warum wohl? Jetzt üben sie ein neues Stück ein. Es ist sehr schön. „Helga, geh und sag Edelgard, sie soll kommen, denn nebenan wird geflötet.“ Ach, ich möchte auch Flöte spielen dürfen. Wie sehne ich mich doch nach Musik. Ja, manchmal spielt Onkel Dörr mir etwas auf der Ziehharmonika vor, die ihm Papi überlassen hat, nachdem Onkel Wolf auch sein gelegentliches Spielen dauernd beanstandete. Schade. Papi spielte doch so gut. Besonders das Lied, wo es heisst: „Dich, mein schönes Tal, grüss’ ich tausendmal“. „Du, Edelgard, hör einmal. Sie üben ein neues Stück ein. Es ist sehr schön. Findest du nicht auch?“

 

Edelgard: Ja, es ist fast so schön wie ihr Spielen zu Weihnachten in der Kirche.

 

Wahrfried: Schade, dass wir nicht auch Flöte spielen können. Mami hat mir aber versprochen, dass sie mir später, wenn wir in einem richtigen Haus wohnen, Klavierstunden geben wird. Das alte Klavier hier, das ihr Papi vorletzte Weihnachten als Überraschung besorgte, ist so verstimmt und schadhaft, dass Mami und Onkel Dörr nicht darauf spielen wollen.

 

Edelgard: Ja, Mami war mal eine „Pinaistin“. Das hat sie uns ja erzählt.

Und Helga, die dem Wortwechsel gefolgt war, fügt bestätigend hinzu: Ja, Omi „Pinastien“.

 

Wahrfried: Unsere beiden Omas haben auch musiziert. Die Erdbeeroma in Bäringen spielte Geige, und die Bonbonoma in Rüstringen spielte Klavier und sang Lieder. Warum haben früher so viele Leute Musik gemacht, und heute wird es einem so erschwert, sie auszuüben.

 

Hat Wolf denn kein Gefühl für Musik?

 

Doch. Alle Menschen sind irgendwie für Musik empfänglich, die einen mehr, die anderen weniger. Er spielte als Junge Mundharmonika. Doch sein Vater konnte es nicht hören und hat sie ihm weggenommen.

 

dass ich schon auf deine Veranlassung hin einige irdische Bücher gelesen habe, kommt es mir nun in den Sinn, diesen Fall mit den Theorien von Sigmund Freud erklären zu wollen.

 

So einfach dürfen wir es uns nun auch nicht machen. Hier überwiegen karmische Gesetze, denn es ist Teil unseres Karmas, den anderen das ihre erfüllen zu helfen. Heidruns und Molars Kinder dürfen trotz grössten Verlangens, oder gerade deswegen, aus karmischen und anderen Gründen kein Musikinstrument beherrschen. Somit übernimmt Wolf, ihm freilich unbewusst, die Funktion, sie von der Erfüllung ihrer Musikwünsche abzuhalten. Die Kinder haben ein bestimmtes Mass an Leid zu erdulden, und Wolf handelt aufgrund seiner negativen Eigenschaften als Leidvollstrecker. Wenn dir diese Gedanken jedoch noch zu kompliziert erscheinen, dann begnüge dich, sein Desinteresse an Musik damit zu erklären, dass er einmal sagte: „Musik gehört nicht in eine Baracke. Das ist Stilbruch.“

 

Mir scheint, dass Wolf mit dieser Aussage durchaus recht hat. Nun, dass ich ja langsam erfasse, dass nichts in deinem Roman - in „unserem“ Roman, wenn ich dich berichtigen darf -, nun gut, obwohl ich noch nicht recht einsehen kann, worin meine Co-Autorenrolle bestehen soll, ... dass also nichts in unserem Roman stehen darf, was nicht für die äussere oder innere Handlung unbedingt nötig ist, ist es mir nicht klar, warum du noch das verstimmte Klavier erwähnst, dass es doch nicht gespielt wird.

 

Ja, lieber Leser, stell nur immer Fragen, denn Fragen sind die Türöffner zum Wissen. Du hast recht. Dieses jetzt misstönende - ich sollte sagen „verwundete“ oder „schwerbeschädigte“ - Klavier ist ein Symbol für jene ganzen Kriegs- und Nachkriegsjahre. Es symbolisiert den Stillstand der Harmonie, ja eigentlich noch viel mehr, denn die einstige Harmonie hat sich in Disharmonie verkehrt, und es gelingt den Menschen nicht, sie zurückzuverwandeln. Sie kapitulieren zumeist vor dieser Aufgabe. Das allbeschaffende Genie Molars stellte am Tag der Liebe dieses verstimmte Klavier in die Baracke - jene wiederum Symbol des Herausgeworfenseins aus den geregelten Bahnen -, um die Seele aufzufordern, sich nicht von der Disharmonie zerstören zu lassen, sondern Mut zu fassen, die Harmonie zu suchen und mit allen Mitteln der Liebe wieder herzustellen. Denn jene Schreckenszeit in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts ist ein Tiefgang der Seele auf ihrem Wege zur Vervollkommnung. Des Menschen Seele wurde tiefer gestossen denn je zuvor. Sie musste in die dunkelsten Abgründe hinabsteigen, um das unermessliche Leid, die wildesten Schrecken, ja, das sich wahrhaft höllisch darstellende Drangsal auszuloten. Weshalb?

 

In diese seelischen Finsternisse des Chaos stellt unser aus Liebe wirkender Held ein Klavier. Ist es nicht wie eine Kerze, die in die Finsternis gebracht wird, damit sie von den nach Licht Suchenden durch die Tat der Liebe angezündet wird? Und ist es wirklich ein Stilbruch, in der Dunkelheit ein Licht anzuzünden?

 

Es wird erwähnt, dass Lilia eine Pianistin war. Stimmt das?

 

Warum fragst du sie nicht selbst? Sie befindet sich mit Wolf auf dem Heimweg und begegnet gerade Frau Katzenbach. Raune ihr also deine Fragen zu, während ich mich um Wolf kümmern werde.

 

Lilia: So, sind Sie noch mit dem Paar Schuhe fertig geworden?

 

Frau Katzenbach: Noch nicht ganz. Ich muss noch das Futter einnähen. Übrigens, Frau Doktor, was ich Sie noch fragen wollte...

 

Wolf: Ich gehe schon vor, Lilia.

 

Lilia: Ja, ich komme gleich nach. Also, was gibt es? Wahrscheinlich wird sie mir ihr Leid klagen wollen, dass sie nun über kein Geld verfüge, um ihre Katzen zu füttern, dass ich ja leider meinen Arbeiterinnen den Lohn für Januar nicht auszahlen konnte. Ich kann ihr auch nichts geben, beim besten Willen nicht.

 

Frau Katzenbach: Der Herr Doktor hat mir einmal anvertraut, dass Sie früher eine Pianistin waren und öffentlich Konzerte gegeben haben. Stimmt das wirklich?

 

Lilia: Ach, ja. Darauf wollte sie also nur hinaus. Ich habe zweimal als Schülerin in unserer Stadthalle in Danzig an einem Klavierabend mitgewirkt. Das war wirklich alles. Mein Mann übertreibt gerne. Sie dürfen bei ihm nicht alles so wörtlich nehmen.

 

Frau Katzenbach: Ja, Ihr Mann liebt Sie halt sehr, und dassmöchte er natürlich, dass seine Geliebte auch von anderen bestaunt wird. Das kann ich verstehen. Hatten Sie bei Ihrem Talent nicht vor, später einmal Pianistin zu werden?

 

Lilia: Ich hatte eigentlich zwei Neigungen: Malerei und Musik. Aber wie es dann so kommt, man heiratet, und alsbald verwandelt man sich in eine Hausfrau und Mutter, und die Kunst muss darunter leiden. Ich hätte vielleicht nie heiraten sollen.

 

Frau Katzenbach: Aber jetzt sind Sie doch mit einem Dichter verheiratet. Als Paar vereinigen Sie alle Künste. Sie sollten Ihre Talente wieder zur Geltung kommen lassen. Und das alte Klavier kann man doch auch wieder reparieren und stimmen lassen, es ist doch noch nicht so eine alte Schreckschachtel wie ich, an der man nie wieder etwas verbessern und in Harmonie versetzen kann, weil von Geburt an keine Harmonie vorhanden war.

 

Lilia: Liebe Frau Katzenbach, die Zeit der Harmonie ist noch nicht gekommen, und ich glaube nicht, dass ich sie noch erleben werde.

 

Frau Katzenbach: Wie es jetzt wohl Ihrem Mann bei seinem Schuhverkauf ergehen mag? Ich mache mir schon grosse Sorgen, dass ihm etwas zugestossen sein könnte. Bitte, liebe Frau Doktor, wenn Ihr Mann zurückkommt, ohne etwas verkauft zu haben, und somit kein Geld mitbringt, seien Sie ihm nicht böse. Er hat bestimmt sein Bestes versucht. Ich werde schon noch einen Monat ohne Geld auskommen können, auch wenn es schwierig werden wird.

 

Wolf hat schon das winterliche Sommertal erreicht. Jetzt sind es nur noch zweihundert Schritte bis zur ersten Baracke. Warum Lilia ausgerechnet diese Hexe einstellen musste, bleibt mir ein Rätsel. Was hat sie mit ihr nur immer zu tuscheln? Die hätte ich damals auch in die Gaskammer geschickt. Hättest du das wirklich getan? Ja, ich glaube schon. Weshalb sollte Hässlichkeit leben, dass diese doch jedem das Leben verleidet? Bist du dir über diese Ansicht ganz im klaren? Ich glaube schon. Aber ist sie nicht ein guter Mensch? Hat sie nicht zum Beispiel deiner Tochter ein Kätzchen geschenkt? Ach, sie brauchte das Viech nicht und hatte nicht den Mut, es zu töten. Dann schiss dieser verdammte Miauer nur in der Wohnung herum. Gut, dass ihn Loderers für Irmgard übernommen haben. Von dieser krummen Hexe will ich nichts haben. Bist du nicht gar zu grob und ungerecht? Nein, ich sehe die Dinge ganz genau so, wie sie sind. Aber glaubst du, dass du sie immer ganz genau so siehst, wie sie wirklich sind? Ich hoffe doch sehr. Nun, vielleicht betrügst du dich selbst? Nein, ganz gewiss nicht. Die Welt allein ist ein grosser Betrüger, und wir tun gut daran, uns freiwillig anzugleichen, bevor wir angeglichen werden.

 

Wolf öffnet nun die Aussentüre der Baracke und tritt durch die Pendeltüre linker Hand in die Werkstatt. Er sieht die Kinder, zu denen sich jetzt Hermann gesellt hat, und herrscht sie sogleich an: „Was? Ihr habt immer noch nicht aufgeräumt?“ Somit gibt er Wahrfried und Hermann eine Ohrfeige, schubst Edelgard zur Tür hin und weist auf ihre Pflichten in der Küche, während er Helgas heruntergeglittenes Höschen hochzieht, dabei jedoch feststellt, dass dieses nass geworden ist, worauf er es hurtig ganz nach unten zieht, das kleine Mädchen, das schon vor ahnendem Schreck zu bibbern begonnen hat, über das Knie legt und mit der flachen Hand mehrere Male auf den nassen Po haut. „Wann werde ich es noch einmal erleben, dass du nicht mehr in die Hose pinkelst, du Ferkel! Hör auf mit deiner Plärrmusik, sonst bekommst du noch mehr Hiebe!

 

Hinter der hölzernen Trennwand wird noch immer Flöte gespielt. Doch bei dem Gebrüll Helgas wissen die beiden Mädchen, dass Onkel Wolf zurückgekehrt ist. Sofort wird ihr Flöten verzagter, bis es schliesslich mit den Heultönen von nebenan ganz verebbt.

Die Barackenmusik von heute ist zu ihrem Ende gekommen. Die Disharmonie hat wieder einmal über die Harmonie gesiegt. Jeder, der sich von den chaotischen Misstönen, die alles in ihre disharmonischen Schwingungen zu versetzen trachten, nicht besiegen lassen will, sollte sich aufmachen, die Harmonie in seinem Herzen zu suchen. Ja, das ist sehr schwer, wir wissen es. Aber allein der Versuch, diese zu finden und sich wirklich darum zu bemühen, ist schon ein lohnendes Unterfangen.

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