Seit drei Tagen hängt ein Zettel im Mitteilungskasten gleich neben dem Torbogen des Rathauses. Auf ihm ist zu lesen: „500 kg Altkleider und Schuhe sind als Spende für Bedürftige aus der Ostschweiz gestiftet worden. Die Verteilung findet am 17. und 18. Januar 1949 von 8 - 12 Uhr in der Rathaushalle statt.“ dassstehen sie an, die Bedürftigen. Und wer rechnet sich in dieser Zeit nicht zu den Bedürftigen? Die Vordersten in der Reihe haben sich trotz der Kälte schon vor sechs Uhr angestellt. Man darf ja nicht zu kurz kommen, besonders wenn man etwas Unerschwingliches und darüber hinaus noch Kostenloses erhalten kann. So bilden die Wartenden eine Schlange von über hundert Metern. Meist sind es Frauen.
Nun wird die Haupteingangstür des Rathauses aufgesperrt, und sofort kommt Bewegung unter die Anstehenden. Die ersten von ihnen können, in der Halle angekommen, die drei Berge mit Altkleidern und die beiden Waschkörbe voller abgetragener Schuhe schon sehen. Hoffentlich kann ich jene zwei guten Mäntel, die drei Paar Schuhe, die Jacke, das Kleid, die beiden Röcke und die Hosen mitnehmen. Aber solche und andere Hoffnungen verflüchtigen sich sogleich, als der die Verteilung vornehmende Beamte laut verkündet: „Jede der anwesenden Personen darf nur drei Kleidungsstücke und ein Paar Schuhe mitnehmen.“ Daraufhin dürfen die ersten zehn der Anstehenden, in den Haufen und Körben wühlend, sich das ihnen für sich selbst oder für ihre Zuhausgebliebenen am geeignetsten Erscheinende hervorzerren und dem buchführenden Beamten zur Eintragung desselben unter Namensnennung des Bedürftigen vorzeigen. Bei einem Kleiderhaufen zanken sich schon zwei Frauen, denn jede von ihnen will jenen noch wie neu aussehenden, gefütterten Kindermantel zuerst gesehen oder auch angefasst haben. Der Stadtschreiber erhebt sich und tritt zwischen die sich schon mit ausfallenden Worten der Bosheit Anfeindenden und reisst ihnen den Mantel aus den Händen, indem er sie drohend anherrscht: „Wenn Sie sich streiten wollen, dann bekommen Sie bei mir gar nichts! Haben Sie verstanden?“ Er schaut auf die beiden, die jetzt erschrocken zu Boden blicken. Alsdann den Mantel betrachtend, überlegt er, wem er diesen nun zusprechen soll: Dieser Kindermantel fühlt sich aber gut an. Warm ist er auch. Der würde gerade meinem Buben passen. „Diesen Mantel“, so entscheidet unser Salomon nun, „bekommt keiner von Ihnen. Wir werden ihn zurücklegen.“ Nachdem die ersten zehn Anstehenden mehr oder weniger zufrieden (ich hätte ja doch lieber die Jacke anstatt des Rockes nehmen sollen) mit ihrer Auswahl von dannen schreiten, kommen die nächsten zehn der schon ungeduldig, aber noch zuversichtlich Wartenden an die Reihe. Unter ihnen befindet sich auch Heidrun Heitmann: Hoffentlich kann ich für meine drei etwas sehr Warmes bekommen. Ecki wird dauernd von einer Erkältung geplagt, und Mechthild und Gerhild husten zur Zeit ebenfalls stark. Ach, wenn wir doch wieder warm gekleidet wären und nicht mehr frieren müssten.
Unter denen jedoch, die ganz am Ende der Schlange stehen und welche die triumphierend - das Errungene über dem Arm - aus dem Rathaus schreitenden Glücklichen betrachten, regt sich so mancher Gedanke: Die nehmen jetzt die besten Sachen mit. Wenn ich an der Reihe bin, sind höchstens noch Lumpen da. Ach, ich hätte doch meine Nachbarin nicht auf die heutige Kleiderverteilung aufmerksam machen sollen. Nun steht sie noch vor mir in der Schlange und hat bestimmt auch noch anderen jetzt vor mir Stehenden davon erzählt. Ich hätte nichts weitersagen dürfen, ich Gans... dasskommt ja Frau Kummerer aus dem Rathaus. Sie hat nur einen Sohn zu versorgen und bezieht ausserdem eine Rente. Weshalb bekommt sie ebenfalls drei Kleidungsstücke und ein Paar Schuhe zugesprochen, wenn ich, die ich für meinen arbeitslosen Mann und fünf Kinder aufzukommen habe, nur das gleiche erhalte? Wir leben in einer ungerechten Welt!
Heidrun nähert sich den Baracken: Meine Kinder werden sich über die schönen warmen Sachen freuen. Es wird so sein, als ob wir nochmals Weihnachten feiern dürften, aber diesmal mit nützlichen Geschenken. Die zwei Löcher im Pullover werde ich sogleich stopfen, ebenso die paar fehlenden Knöpfe am Mantel ersetzen. Dann muss ich gleich kochen, denn die Kinder kommen bald aus der Schule.
Lilia entdeckt die an ihrem Fenster vorbeigehende Schwägerin und tritt, als jene gerade den Schlüssel hervorkramt, um ihre Türe aufzuschliessen, aus der Baracke heraus und sagt: „Wo bist du denn heute geblieben? Ich bin immer noch dein Arbeitgeber, und du musst dich bei mir beurlauben lassen, wenn du einen freien Vormittag haben willst. Die Arbeit einfach schwänzen gibt es bei mir nicht.“ „Aber liebe Lilia“, so erwidert Heidrun, „ich musste doch heute schon um sechs Uhr früh aus dem Hause, um mich am Rathaus für die Kleiderausgabe anzustellen. Entschuldige bitte, dass ich es vergass, um Beurlaubung nachzukommen.“
Lilia: Wie schade, dass ich nichts von der Kleiderverteilung gewusst habe. Die hat es bestimmt für sich behalten, weil sie anderen nichts gegönnt hat. Ich muss arbeiten. Ich habe keine Zeit, nach Kleidern anzustehen. Das weisst du ja. Nun zeige mir doch schon, was du für uns mitgebracht hast.
Heidrun: Aber ich habe doch nur drei Kleidungsstücke und ein Paar Schuhe bekommen können. Mehr gab es nicht, und ich benötige alles für meine Kinder.
Lilia: Du hättest ja auch sagen können, ich sei krank, und du müssest deswegen auch Kleidungsstücke für deines Bruders Familie mitbringen. Du bist nur zu egoistisch. Du denkst nur an dich. Und ich soll dich auch noch durchfüttern. So dankst du es mir also. Schäm dich.
Heidrun: Nur jetzt nicht aus der Haut fahren. Sie wird dir sonst kündigen. Aber liebe Lilia, ich habe doch Hans Winfried gestern gesagt, dass er zur Kleiderverteilung kommen soll. Es ist doch nicht meine Schuld, dass ihr nichts bekommt.
Lilia: Du hättest natürlich mich darauf aufmerksam machen müssen. Hans Winfried vergisst doch alles. Auf den ist ja sowieso kein Verlass. Aber wieso sagte er mir nichts, wenn seine Schwester mir schon nichts mitteilen will. Ach, ich muss doch wieder mal energisch mit ihm werden.
Von letzterem Gedanken zur Tat aufgerufen, schreitet sie durch die Küche in das Wohnzimmer und entdeckt dort ihren Mann, der, das Gesicht mit dem Rasierpinsel einseifend, vor dem Spiegel steht. Er hat bis in den frühen Morgen hinein über seinem „Perikles“ gesessen und sich schliesslich, als die Kinder geweckt wurden, zur Ruhe gelegt - ist somit eben erst aufgestanden. Seine verärgerte Ehehälfte wird, als er sie erblickt, mit einem volltönenden „Guten Morgen, liebes Lilalein!“ begrüsst. Aber der Gatte, während er sich anschickt, mit dem Rasiermesser das nach rechts zum Spiegel hin vorgeschobene Kinn von Seife und Bartstoppeln freizubahnen, hört statt einer lieben Erwiderung: „Hans Winfried! Hat dir nicht Heidrun gestern von der heutigen Kleiderverteilung berichtet?“
Molar: 0 ja, das habe ich ganz vergessen. Das ist aber ärgerlich!
Lilia: Vergessen, vergessen, so etwas darf man nicht vergessen! Du hast eine Frau und vier Kinder zu versorgen. Wir haben kaum etwas zu essen, und an Kleidung fehlt es uns zu dieser Jahreszeit besonders. Wenn ich wie du alles vergessen würde, dann könnten wir schon vor langer Zeit „Gute Nacht!“ gesagt haben.
Molar: Aber liebes Lilaleinchen, ich kann ja noch schnell zum Rathaus eilen.
Lilia:Jetzt ist es doch schon fast Mittag. Die machen doch dann zu. Und ausserdem sind die besten Stücke alle längst weg, wenn überhaupt noch etwas vorhanden sein sollte.
Molar: Bitte, Liebste, rege dich nicht auf, ich werde schnell noch eben hineilen.
Nun werden seine Handbewegungen mit dem Rasiermesser schneller und ..., na, es war ja vorauszusehen, Blut drängt sich aus einer Schnittwunde, die nun eifrig mit einem Wattebausch, aus dem Medizinkoffer in aller Eile hervorgekramt, betupft wird, um somit ihr rotes Rinnsal einzudämmen. Also stürmt jetzt der eilfertige Dichter, in Schnelle angekleidet, nur zur Hälfte rasiert und mit mit Pflaster versehener Wange, dem mittelalterlichen Städtchen entgegen. Ich werde es noch schaffen.
So gelangt Molar gerade in dem Augenblick an die Rathaustür, als ein Stadtbeamter diese verschliessen will.
Molar: Moment noch, ich muss ganz dringend noch schnell etwas erledigen».
Stadtbeamter: Kommen Sie am Nachmittag wieder. Jetzt geht jeder zum Essen.
Molar: Nein, es ist sehr wichtig. Sie müssen wissen, ich bin der Doktor Bröckelberger und habe nur auf eine Minute jemanden ganz schnell zu sprechen.
Stadtbeamter: Na, meinetwegen, aber nur auf einen Augenblick.
Als sich Molar innerhalb des Rathauses befindet, fragt er: „Wie ist noch Ihr werter Name?“ „Staudinger“, erhält er zur Antwort. „Und wie heisst Ihr Kollege, der die Kleiderverteilung vornimmt?“ „Wohlers, Herr Doktor“, so entgegnet jener auf seine Frage.
Molar: Ach ja, richtig, Herr Wohlers. Wo befindet er sich jetzt, werter Herr Staudinger?
Staudinger: Er muss noch im Saal sein. Warten Sie, Herr Doktor, ich führe Sie zu ihm.
Und als sie in jenen Saal treten, gibt es kein Kleidungsstück mehr, das man auf dem Boden finden, und keine Schuhe, die man in den Körben entdecken könnte. Und der Stadtbeamte macht den die Eintragungen nochmals überprüfenden Herrn Obersekretär Wohlers auf den hinter ihm hervortretenden Besucher aufmerksam, indem er sagt: „Der Herr Doktor Bröckelberger möchte Sie in Eile aufsuchen.“ „Wer?“, so tönt es zurück, „Ach so, der Herr Bröckelberger. Was kann ich für Sie tun?“ Ja, Sie kennen mich ja nur zu gut, lieber Herr Wohlers. Wir haben uns ja schon häufig in Ihrem Amtszimmer unterhalten. Wie geht es Ihrer Familie?“
Wohlers: Der geht es gut, danke. Woher kennt er meine Familie, und gesprochen haben wir uns schon dienstlich, aber nur dienstlich. Was will er eigentlich?
Molar: Werter Herr Wohlers, Sie wissen ja, ich bin Schriftsteller, und es ist schwer, sich mit dem dichtend geschriebenen Wort in der Welt durchzuschlagen, besonders, wenn man noch Frau und vier Kinder mitzuernähren hat.
Wohlers: Ich weiss schon, ich weiss. Ich kenne ja seine Familienverhältnisse. Das letzte Mal, als er bei mir war, hat er mich tatsächlich überredet, ihm noch zusätzliche Rationierungsmarken für Esswaren zu geben. Sei vorsichtig.
Molar: Nun, ich habe mich die ganze letzte Nacht am Schreibtisch bemüht, um mit einem neuen Drama voranzukommen. Ja, wenn das einmal in einem Theater aufgeführt wird, möchte ich Ihnen gerne eine Ehrenkarte zukommen lassen für alle Ihre Freundlichkeit, die Sie als guter Mensch so vielen Hilfsbedürftigen zuteil werden lassen. Man sollte Ihnen einen Orden für Ihre mitmenschlichen Bemühungen verleihen. Ich sollte deswegen mal an höherer Stelle vorsprechen. Ja, ich habe natürlich vor lauter Gedanken an meine Dichtung vergessen, dass heute die Kleiderverteilung stattfindet, und somit frage ich Sie, ob denn nicht noch etwas zurückbehalten worden ist, denn wie ich sehe, scheinen alle Kleider schon ausgegeben worden zu sein, und ich kann ausser dem Kindermantel dort an dem hinteren Haken nichts mehr erkennen.
Wohlers: Es tut mir leid, Herr Doktor, aber alle Sachen sind schon verteilt, und ausser einem unpaarigen Paar Schuhen im Papierkorb und dem Kindermantel ist nichts mehr vorhanden.
Molar: Darf ich einmal die Schuhe und den Mantel besehen?
Wohlers: Die Schuhe, meinetwegen. Aber der Mantel ist schon vergeben. Ich hätte ihn doch auch nicht so einfach dort hinhängen sollen.
Molar: Ach, wem immer der Mantel gehört, wenn er wüsste, dass meine beiden Jungen zusammen in diesem kalten Winter nur einen Mantel haben, den sie sich teilen müssen, wenn der sehen würde, wie immer einer meiner beiden zähneklappernd herumläuft, so dass man Mitleid hat und Angst bekommt, der Junge könnte sich den Tod holen, ja, dann würde auch er Mitgefühl verspüren und sofort sagen: Nehmen Sie den Mantel für I h r e Söhne. Der meine hat schon noch etwas Warmes zum Überziehen.
Auf diese Art kommt Wahrfried zu seinem schönen Schweizer Mantel, während sein geflickter alter nur für das Holzsuchen im Wald oder für irgendwelche anderen schmutzigen oder auch „besonderen“ Arbeiten verwendet wird.