Aber du kennst sein Herz nicht

Torsten von Luckwald sitzt, vor sich hinbrütend, in seinem Schwabinger Zimmer. Morgen muss ich mir eine andere Bleibe suchen. Die Wirtin droht mir jeden Tag mit der Polizei. Ich muss heimlich nachts hier ausziehen, so dass sie nichts hört. Ich verschwinde mit meinen wichtigsten Sachen. Ich kann sie alle in meinen beiden Koffern verstauen, ausser der Schreiblampe natürlich. Aber wenn ich mich heute nacht vollbepackt davonschleichen würde, könnte Frau Ainzinger vielleicht meinen Auszug bemerken. Ich müsste versuchen, jetzt schon einen Koffer heimlich zu packen und vorher aus dem Haus zu schaffen. Er holt einen solchen vom Schrank herunter und öffnet ihn hinter dem Tisch auf dem Boden. Hier kann sie ihn nicht sehen, wenn sie plötzlich hereinkommen sollte. Ich möchte bloss wissen, wann ich meine Versicherungsrückzahlung bekomme. Sie müsste jeden Tag eintreffen. Hans Winfrieds Geld ist auch schon aufgebraucht. Ich muss morgen wieder zur „Süddeutschen Zeitung“ und mal „arschkriechen“ (das ist ein zeitläufiger Ausdruck für „untertänigst ersuchen“), damit man mir wiederum einen kleinen Auftrag gibt wie Theaterkritik, Buchbesprechung oder einen Bericht über irgendein Münchner Ereignis.

 

Während seine Gedanken sich munter regen, sind seine Hände ebenfalls emsig gewesen und haben den Koffer mit Wäsche und sonstigem gefüllt. Er verschliesst ihn gerade in dem Augenblick, als es an der Türe klopft.

Das ist meine Wirtin. Schnell den Koffer unter den Tisch und die Schranktüren geschlossen.

Und schon ruft er: „Herein!“

 

Molar steht hinter der Wirtin, welche die Tür geöffnet hat und nun verkündet: „Herr Luckwald, Sie haben Besuch! Und was ich Ihnen nochmals sagen will, morgen zahlen Sie, oder ich schicke Ihnen die Polizei auf den Hals. Ich hoffe, Sie haben verstanden!“ Vielleicht pumpt ihm sein Besucher jetzt Geld, damit er mir etwas von der Miete abbezahlen kann. Schliesslich schuldet er mir doch schon über zweihundert Mark.

 

Und während sie in die Küche geht, rumort es weiterhin in ihrem Kopf: Ja, einen vernünftigen Beruf hat der feine Herr „von und zu“ nicht, und auch keinen Pfennig in der Tasche. Ich verstehe nur nicht, womit er seine vielen Zigaretten bezahlen kann. Meine Vorhänge sind schon vor lauter Qualm ganz graugelb geworden. Ja, mit meinen vier Mietern habe ich immer Ärger. Man kann sie noch nicht mal rauswerfen lassen, denn das Wohnungsamt kann ihnen keine anderen zur Verfügung stehenden Räume vermitteln. Der Herr Schanzelmeyer schuldet mir schon seit acht Monaten die Miete. Und wenn ich mich bei der Polizei oder bei der Stadt beschweren gehe, heisst es nur: „Ja, dasskönnen wir nichts machen. Über ein Viertel aller Münchner Mieter ist mit ihrer Miete rückständig. Wir können sie nicht alle ins Gefängnis sperren, denn diese sind sowieso schon überfüllt mit Schwarzhändlern, Dieben und Einbrechern. Seien Sie froh, dass Sie noch Hauseigentümerin geblieben sind. Viele haben ihr Haus und ihren Besitz durch Bomben oder Flucht verloren. Frau Ainzinger, wir befinden uns immer noch in einer Notlage. Und dassmuss man froh sein, überhaupt leben zu dürfen und ein Dach über dem Kopf zu haben. Drohen Sie Ihren Mietern mit der Polizei und versuchen Sie, von ihnen Ihr Mietgeld zu erpressen. Aber wir können Ihnen leider keine Unterstützung zukommen lassen.“ Ja, das alles bekommt man zu hören. Aber helfen tut einem keiner. Was für schlimme Zeiten! Selbst die vermietenden Hauseigentümer haben nicht genug zu essen und müssen auf Arbeitssuche gehen. So etwas hat es in Bayern noch nie gegeben.

 

Guten Tag, Hans Winfried. Gut, dass du mich besuchen kommst. Leider habe ich noch keine hundert Mark zur Hand.

 

Molar: Von welchen hundert Mark sprichst du?

 

Luckwald: Du hattest mir doch hundert Mark geliehen.

 

Molar: Ach so, ja, das hatte ich schon wieder vergessen. Aber behalt sie nur einstweilen, bis dich wieder bessere Zeiten umarmen.

Nun berichtet ihm Molar über seinen Erfolg bei dem Verleger Pfaff und fügt anschliessend hinzu: „Du hattest mir doch erzählt, dass du freischaffender Journalist seist und sogar für die „Süddeutsche Zeitung“ Bücher besprächest. Wäre es dir nicht möglich, nach Veröffentlichung meines „Lebendigen Seins“ eine wohlwollende Kritik in die Zeitung setzen zu lassen?“

 

Luckwald: Ja, darüber liesse sich schon reden. Ich hätte natürlich zuerst mit Herrn Weiss, unserem Chefredakteur, zu sprechen. Aber hab erst einmal deinen Gedichtband gedruckt in den Händen, denn vielleicht geht doch noch alles schief.

 

Molar: Torsten, wie kannst du nur so negativ denken? Man muss immer positiv ausgerichtet sein, sonst versauert man sich sein ganzes Leben.

 

Luckwald: Das finde ich gar nicht. Man muss immer nüchtern die Dinge so betrachten, wie sie sind. Sonst kann es passieren, dass man grosse Hoffnungen auf etwas setzt, was dann vollkommen scheitert. Solche tiefen Stürze sind weit schlimmer als vorsichtiges, wenn auch manchmal erfolgloses Taktieren.

 

Molar: Wenn du richtig positiv denken könntest, würdest du dir so viele verschiedene erstrebenswerte Ideale schaffen, dass selbst wenn das eine vollkommen scheitern sollte, du dich immer noch an die anderen klammern könntest, so dass du nie hinabstürzen müsstest. Übrigens, wie ergeht es deinen literarischen Ambitionen? Du hast früher ein aussergewöhnliches Talent besessen, das ich immer bewundert habe.

 

Und Luckwald erzählt ihm von seinen mässigen Erfolgen. Hier und dasswaren einige seiner Gedichte in Zeitschriften oder Anthologien moderner Lyrik gedruckt worden. Aber damit hatte sich schon sein Dichterruhm „abgelaufen“.

 

Molar: Bitte, stelle doch alle deine Gedichte zu einer eigenen Anthologie zusammen. Ich werde mit ihr zu meinem Verleger gehen und ihn bitten, diese ebenfalls drucken zu lassen.

 

Luckwald: Aber selbst wenn sie zur Veröffentlichung gelangten, wer würde sich einen Lyrikband kaufen wollen? Ich verdiene doch kein Geld damit.

 

Molar: Aber ist es nicht wichtiger, dem einen oder anderen, und seien es nur wenige, mit dem gedichteten Wort eine Freude oder Aufmunterung zukommen zu lassen?

 

Luckwald: Der hat gut reden. Und von was soll ich leben? Die paar Begeisterten würden mich auch nicht unterstützen können. Nein, ich glaube, ich sollte mein Talent umpolen und Kriminalromane verfassen, denn damit ist bestimmt Geld zu verdienen. Die Menschen wollen in Spannung versetzt sein, denn das zwanzigste Jahrhundert hat ihnen durch seine geschichtlichen Ereignisse den Nervenkitzel verpasst, sie haben praktisch „Blut geleckt“ und benötigen weiterhin Blut, wenn es jetzt auch nur in Romanen dargeboten wird.

 

Molar: Nein, die Menschen haben genug Grauen und Ängste durchlitten. Sie müssen wieder zur inneren Beschaulichkeit, zur seelischen Harmonie zurückgeführt werden. Wir Dichter müssen sie wieder zu sich selbst bringen, sie an die höhere Vernunft, an das ewig Gute in ihnen gemahnen.

 

Luckwald: Du unterbreitest mir wieder eines deiner Ideale. Hoffentlich wirst du in diesen Hoffnungen nicht noch einmal böse enttäuscht werden.

 

Molar: Wie wäre es, Torsten, wenn wir uns beide zusammen an einen Roman heranwagen wurden. Ich denke dassan einen interessanten Lebensroman, denn die sind doch, richtig dargestellt, viel spannender als die blutrünstigen Kriminalromane. Ich denke zum Beispiel in Parallele an Albert Schweitzer an einen Urwalddoktor, der nach Afrika geht und trotz aller Hindernisse sein von ihm gestecktes Ziel erreicht.

 

Luckwald: Ach, so etwas Langweiliges liest doch keiner mehr. Die Greuel des Krieges müssen in einem Roman überboten werden, dem Menschen muss weiterhin der Atem vor Spannung verschlagen werden. Dann sollten wir lieber den Spiess umdrehen und über einen schwarzen Soldaten schreiben, der als französischer Soldat die Schrecken des Krieges in Europa miterlebt.

 

Molar: 0, das scheint mir eine grossartige Idee zu sein. Ein Schwarzer eines kannibalischen Stammes versucht uns Europäern Frieden und Bruderliebe zu künden. Eine grosse Idee. Wenn ich wieder auf längere Zeit in München bin, wollen wir uns diesen Stoff vornehmen. Ja, wir könnten diesen Roman „Die grüne Hölle auf Erden“ nennen. Wie findest du das?

 

Luckwald: Wie schnell er sich für eine Sache begeistern kann. Andere Menschen benötigen Dutzende von Anläufen zu einem Entschluss und werfen ihn letzten Endes doch wieder um. Ich wollte etwas Absurdes sagen, und er macht daraus einen genialen Einfall. Wir können darüber später einmal ausführlicher reden. Mich drücken im Moment viel grössere Höllensorgen, die mir gar nicht grün erscheinen wollen. Du hast gehört, Hans Winfried, was meine Wirtin mir androhte. Ich schulde ihr sechs Monatsmieten. Morgen wird die Polizei mich holen, und ich werde auf unbestimmte Zeit ins Gefängnis geworfen. Dabei warte ich jeden Tag auf meinen Allianz-Lebensversicherungsrückzahlungsbescheid (typisches Angestelltenversicherungsdeutsch). Vielleicht kommt er schon morgen oder übermorgen mit der Post. Kannst du mir keinen Rat geben, wie ich dieser momentanen Not am besten begegnen könnte?

 

Molar: Ich würde dir gerne helfen, aber ich besitze nur noch dreihundert Mark, von denen für unsere Arbeiterinnen in Meersburg der Lohn vom vergangenen Monat bezahlt werden muss. Ich darf nicht ohne Geld zurückkommen. Ansonsten würde ich dir gerne aus der Klemme helfen.

 

Luckwald: Wann wirst du nach Meersburg zurückfahren?

 

Molar: Ich denke in drei bis vier Tagen.

 

Luckwald: Bis dahin habe ich bestimmt die Rückzahlungsanweisung erhalten. Wenn du mir bis dahin die dreihundert Mark leihen könntest, würdest du mich vor dem Gefängnis bewahren. Du weisst, die Zellen in den Strafanstalten sind nur spärlich beheizt, und vielleicht kann ich in kurzer Zeit sterben, und dann sind unsere Literaturpläne ebenfalls ausgeträumt.

 

Molar: Also gut, hier nimm das Geld. Aber ich muss mich auf dich verlassen können, es in drei Tagen wiederzubekommen.

 

Luckwald: Aber natürlich doch, Hans Winfried. Mensch, ist der naiv. Ich glaube, wenn ich ihn um seinen Hut oder Mantel bitten würde, überliesse er mir beides auch noch.

 

Ich glaube nicht, dass Molar ihm seinen neuen Mantel auch noch abtreten würde. Er hat zwar noch seinen alten Mantel im Hotel. Allerhöchstens wird er ihm diesen überlassen.

 

Nun, lasse doch Torsten um eben diesen neuen Mantel bitten, und du wirst unseres Dichters Reaktion sehen. Ich hingegen werde dein Opponent sein und Molar ein wenig negativ beeinflussen.

 

Luckwald: In Meersburg ist es zu dieser Jahreszeit schon viel wärmer.

 

Molar: Ja, in jedem Fall. Nein, es kann manchmal ebenso kalt wie hier sein.

 

Luckwald: Wir hier in Oberbayern haben laut Statistik das kälteste Winterklima Deutschlands. Wenn bei euch am Bodensee schon die Kirschbäume blühen, können wir noch manchmal Frost bekommen. Ich habe nur einen ganz dünnen Mantel, und ich friere erbärmlich. Letzten Dezember hatte ich eine solch schlimme Erkältung, dass ich glaubte, ich müsse sterben. Mein Körper ist seitdem noch so schwach, dass ich befürchte, den nächsten Erkältungsrückfall nicht zu überleben. Ginge es nicht, dass wir unsere Mäntel tauschten, denn der meine wäre für den Bodensee gerade noch entsprechend, während der deine dir dort zu warm sein wird, mir hier aber genau richtig willkommen wäre?

 

Molar: Pass auf, er will dir deinen Mantel abknöpfen. Aber wenn ich ihn nicht hergebe, dann könnte es seiner Gesundheit schaden. Sei kein Schafskopf. Sein Mantel ist noch dick genug. Aber das muss er doch besser wissen, ob es ihn friert oder nicht. Ja, ich würde ja gerne... aber ich brauche ihn selbst noch.

 

Luckwald: Lieber Hans Winfried. Du hast eine robuste Natur, der kein Eis und Schnee etwas anhaben kann. Ausserdem bist du, wie mir scheint, so gut behütet von unsichtbaren Geistern, dass dir bestimmt nichts passieren kann, während ich meinen Geistern nicht so recht traue.

 

Molar: Aber dein Mantel ist mir doch zu eng und der meine dir zu gross.

 

Luckwald: Lieber etwas zu gross als tot. Und bei meinem Mantel brauchst du nur die Knöpfe ein wenig versetzen zu lassen, das ist alles.

 

Molar: Ja, lieber Torsten. Nimm ihn. Ich schenke ihn dir. Behalte du deinen alten ebenfalls, denn ich habe noch meinen abgetragenen im Hotel. So, ich muss jetzt gehen. Hier sind die dreihundert Mark, und dort bediene dich des Mantels.

 

Luckwald: Hans Winfried! Darf ich dich umarmen? Du bist der gutherzigste Mensch, den ich bisher kennengelernt habe. Der Himmel wird es dir einst lohnen. Ich komme mit nach draussen, denn ich muss noch einen Koffer zu einem Freund bringen. Kannst du ihn vielleicht mit nach unten nehmen, und zwar so, dass die Wirtin ihn nicht sieht, denn sonst argwöhnt sie gleich, ich würde mich auf und davon machen. Ich gehe indessen zu ihr in die Stube und werde ihr die Miete zahlen.

 

Und so geschieht es auch - ausser der Bezahlung der Mietrückstände natürlich. Unten auf der Strasse verabschieden sich beide, und Molar verspricht seinem wiedergetroffenen Schulfreund, in drei Tagen bei ihm vorbeikommen zu wollen.

 

Nun, lieber Leser, du hast als Bösewicht deine Sache gut gemacht und hast mich in meiner Rolle als Widergeist übertrumpft.

 

Es war leichter, als ich vermutete. Wie kommt es, dass dein Schützling so leichtgläubig ist? Er beschwatzt doch auch alle Leute, um sie mit seinen Worten und „Tricks“ um Geld und Gegenstände zu erleichtern. Also musste er doch Luckwalds Machenschaften als erster durchschauen?

 

Du redest klug Aber du kennst sein Herz nicht. Und ohne die Kenntnis des Herzens kann man vielleicht klug, aber nie weise werden.

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